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eines Schlangenschatzhüters ist man gegen Verfolgung gesichert, sobald man sein eigenes Heim oder eine andere menschliche Wohnung erreicht hat; dort hört die Macht der Schlangen auf.

Die Sage kennt auch Geschöpfe, die halb Schlange sind, oben aber menschliche Gestalt haben; man könnte sie auch wohl Fischweiber nennen. Die Sage hat eine größere Gestaltung in dem Volksbuche von der schönen Melusine angenommen[1].

Schlangen wirken zauberkräftig, selbst noch im Tode. Einem lange kränklichen Manne schlüpfte während des Schlafes eine Schlange in den Hals. Als sie später wieder herauskam, wurde der Mann wach, empfand neue Kraft wie nach süßem Schlafe und war von da an gesund wie ein Fisch im Wasser[2].

Die Drachengestalt der Sage ist möglicherweise noch ein Schatten der großen Ungeheuer, der riesenhaften Reptilien der Vorzeit. Der Drache heißt auch Lind-, Stollen- (Schweiz), Hasel- (Tirol) oder Tatzelwurm (Bayern) und wird meist in Schlangengestalt aber mit Füßen und Flügeln gedacht. Oft ist er mehrköpfig, sprüht Feuer oder doch vergifteten Hauch und hat furchtbaren Blick. Fast sämtliche Kulturvölker kennen den Drachen und zwar vorzugsweise als Schatzhüter oder Gewitterdämon. Er bewachte bei den Griechen die goldenen Äpfel der Hesperiden, behütete in Kolchis das goldene Vließ, beschützte als Python das Heiligtum in Delphi und verwehrte in Böotien den Zutritt zu dem heiligen Haine des Mars. In der germanischen Sage ist er als Midgardsschlange dargestellt; als Fafnir hütet er den Nibelungenhort, wird von Siegfried erschlagen, der in seinem Blute bis auf eine Stelle unverwundbar wird. Sigurds Helm ist in der nordischen Sage mit einem Drachen geziert. In China ist der Drache noch heute Sinnbild der Reichsgewalt. Bei den alten Sachsen, von Otto IV. und von englischen Königen wurde er als Feldzeichen geführt. Päpste ließen bei öffentlichen Prozessionen eine Drachengestalt umhertragen; die darstellende Kunst läßt ihn vielfach Verwendung finden, und in


  1. Vergl. Nowack, Die Melusinensage. Zürich 1886, und die verschiedenen Ausgaben der Volksbücher.
  2. Strackerjan, Aberglaube u. Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. II. S. 109.
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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/103&oldid=- (Version vom 31.7.2018)