Seite:Die Relativitätstheorie der Physik.djvu/45

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

ganz die entsprechende Rolle wie in der Relativitätstheorie die Minkowskische in Raum und Zeit vierdimensionale Welt. Gerade wie dieses eine Gebilde die unendlich vielen Fälle auf ein und dieselbe Weise als Projektionen aus sich abzuleiten gestattet, die sich in den dreidimensionalen Euklidischen Räumen und in den zugehörigen Zeiten der einzelnen relativ zu einander gleichförmig bewegten Beobachter abspielen, so erlauben die mathematisch definierten starren stereometrischen Gebilde und überhaupt alle starr gedachten Formen die unendlich zahlreichen wirklich beobachteten Körper auf eine und dieselbe Weise als perspektivische Verschiebungen aus sich herzuleiten.

Die Konstruktion solcher vereinheitlichenden Gebilde ist tiefste Eigentümlichkeit des Denkens und hängt funktionell mit einer der wesentlichsten Eigenschaften des Zentralnervensysteme, ja alles Protoplasmas zusammen. Das kann hier nicht ausgeführt werden, aber die Erwähnung sei gestattet, um auf die biologische Fundierung unserer Weltanschauung hinzuweisen[1]) und noch durch andere Tatsachen und durch Tatsachen nahegelegte Gründe bestätigen zu lassen, dass es für diese Anschauung ganz unmöglich ist, die Gestalten des Sehraums als ‚Erscheinungen‘ dahinter verborgener ‚Dinge an sich‘ zu deuten: sie sind eben nur psycho-biologische ‚Funktionen‘ — besser: psychobiologische Komponenten des Wirklichen.

Solche Auffassungen begegnen heute noch bei metaphysisch gerichteten Naturwissenschaftern wie bei philosophischen Metaphysikern stärkstem Widerstand. In der Diskussion, die sich in der „Société française de Philosophie“ an einen Vortrag Langevins über die Relativitätstheorie anschloss, stellte Rey die Gestaltänderungen des Sehraums als „erreurs de perspektive“ den Aenderungen der Gestalten und des Uhrgangs jener Theorie scharf gegenüber[2]). Und in einem Artikel über den „relativistischen Positivismus und die Naturwissenschaft“[3]) zeigt sich Poske über die Ansicht, dass der Begriff der optischen ‚Täuschungen‘ fallen müsse, sehr erstaunt. Noch „frappanter“ aber sei unsere Auffassung der Perspektive. „Dahin gelangt man, wenn man die Hypothese der Wirklichkeit als metaphysisch verwirft. Mit solchen Konsequenzen führt sich der relativistische Positivismus selbst ad absurduum“. Also: was alle mit normalen Sinnen Begabten zu jeder Zeit mit grösster Uebereinstimmung wahrnehmen, das ist Täuschung. Was aber niemand wahrnimmt, was durch keine Beobachtung und keinen Versuch nachgewiesen werden kann, das ist die Wahrheit! So vermag Jahrtausende alte Metaphysik — die Metaphysik der Substanzvorstellung[4]) — noch immer das Denken auch von Vertretern der exaktesten Wissenschaft zu beeinflussen ganz gegen den Grundzug dieser Wissenschaft selbst,

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/45&oldid=- (Version vom 9.6.2024)
  1. vgl. Petzoldt, Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung 1, S. 258 ff. 309 ff.
  2. Bulletin de la Société française de Philosophie a. a. O. S. 30.
  3. Zeitschrift für den Physikal. und Chem. Unterricht 26, 1913, S. 190.
  4. Petzoldt, Weltproblem a. a. O. S. 54.