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der Natur und der mathematischen Erkenntnismittel und oft, ja wir müssen sagen gewöhnlich eine, die ihn am geradlinigen Fortschritt hemmen kann und auch oft genug wirklich hemmt. Wir stehen noch immer unter der Platonisch-Kantischen Auffassung der Mathematik und der Naturwissenschaft, und jeder Fortschritt wird ihr mühsam abgerungen. Wir müssen einsehen lernen, dass die ungehemmte Entwicklung der Naturwissenschaft die völlige Befreiung von dem Drucke jener Lehren fordert. Das Studium der Relativitätstheorie legt das handgreiflich nahe.

34. Wir haben gezeigt, dass von den Veränderungen, die die Relativitätstheorie ‚bewegten‘ Körpern für den ‚ruhenden‘ Beobachter zuschreibt, nicht nur deren optische, sondern auch deren taktilokinaesthetische Merkmale betroffen werden, und haben damit die Behauptung zurückgewiesen, dass jene Aenderungen nur ‚scheinbare‘ seien. Dem könnte aber eingewendet werden: wenn damit auch bewiesen sei, dass es sich auf keinen Fall um blossen ‚Augenschein‘ handele, so sei dadurch doch nicht ausgeschlossen, dass hier eine allgemeinere ‚Sinnestäuschung‘ vorliege, nicht nur eine optische, sondern zugleich auch eine entsprechende taktilokinaesthetische; wenn also auch der eine Schenkel des ‚bewegten‘ Michelsonschen Apparates für den Tastsinn des ‚ruhenden‘ Beobachters verkürzt sei, so sei er doch ‚in Wirklichkeit‘ ebenso lang wie der andere Schenkel geblieben.

Wer so etwas behaupten wollte, würde in die Willkür der Metaphysik verfallen: er könnte seine Behauptung nicht bloss tatsächlich nicht beweisen, sondern ein Nachweis wäre nicht einmal denkbar, weil er immer wieder durch und für die sinnliche Beobachtung geliefert werden müsste, die Sinne aber eben als etwas Nicht-Wirkliches vortäuschend vorausgesetzt worden wären. Wer die Sinne zu Betrügern macht, der spricht der Naturwissenschaft ihren Wert für die Erkenntnis des Wirklichen ab, denn es gibt keinen haltbaren naturwissenschaftlichen Satz, der sich nicht auf sinnliche Beobachtung stützte. Der Zweifel an den Sinnen ist es gewesen, der von Heraklit und Parmenides auf Platon überging und hauptsächlich den Untergang der Naturwissenschaft im Altertum, ja schliesslich der ganzen griechischen Kultur und das Heraufkommen des Mittelalters verschuldete[1]). Darin liegt keine Uebertreibung. Das Misstrauen in die Sinne ist es auch heute noch, was den erkenntnistheoretischen Idealismus, die ungeheuerliche Lehre stützt, dass die Welt nur Vorstellung, nur Bewusstseinserscheinung sei. So mancher Relativitätstheoretiker betritt mit seiner Lehre vom ‚Schein‘ denselben Weg. Einstein hat ganz richtig erkannt, dass die Frage, ob die Lorentz-Verkürzung wirklich besteht oder nicht, irreführend sein kann. „Sie besteht nämlich nicht ‚wirklich‘, insofern sie für einen mitbewegten Beobachter nicht existiert; sie besteht aber ‚wirklich‘, d. h. in solcher Weise, dass sie prinzipiell durch physikalische Mittel nachgewiesen werden könnte, für einen nicht mitbewegten

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/42&oldid=- (Version vom 9.6.2024)
  1. Petzoldt, Das Weltproblem a. a. O.