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einheitlichen Zusammenfassung der unendlich vielen Raumzeitsysteme der Einsteinschen Relativitätstheorie entgegen, wie sie von Minkowski vorgenommen wurde; sie erblickt vielmehr — wie es noch später verdeutlicht werden soll — in dieser mächtigen Schöpfung eine wichtige, ja — nun wir sie besitzen — unentbehrliche Ergänzung der ursprünglichen Lehre. Nur darf natürlich ihr Charakter als lediglich der eines Begriffssystems nicht verwischt werden. Daher kann der positivistische Erkenntnistheoretiker dem Satz, dass „durch die Erscheinungen nur die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt gegeben“ sei[1]), so, wie er da steht, gewiss nicht zustimmen; doch ist derselbe wahrscheinlich nicht metaphysisch gemeint. Für unsern Standpunkt ist ja, wie schon oben (S. 7 f.) berührt, nicht einmal der dreidimensionale Euklidische Raum, in dem die theoretische Physik die Naturvorgänge gewöhnlich verlaufend denkt, ‚gegeben‘; wir verwenden ihn vielmehr nur als ein begriffliches Hilfsmittel des Denkens. Um so leichter sind wir aber auch geneigt, alle anderen von der modernen Mathematik entdeckten und durchforschten Raumbegriffe zur Anwendung kommen zu lassen, sowie das mit Vorteil geschehen kann. Wir haben daher auch nichts Grundsätzliches gegen eine „nicht-Euklidische Interpretation der Relativtheorie“ einzuwenden, wie sie von Varicak gegeben worden ist[2]).

29. Die wichtigste erkenntnistheoretische Frage zur Relativitätstheorie ist diese: sind die von ihr gelehrten Veränderungen der Gestalt der Körper und des Uhrgangs des ‚bewegten‘ Systems für den ‚ruhenden‘ Beobachter nur ‚scheinbar‘ oder ‚wirklich‘?

Die meisten Forscher, die sich hierzu äussern, sind der Ansicht, dass es sich nur um scheinbare Aenderungen handele, ohne dass sie aber angeben, welchen Sinn die Bezeichnung ‚scheinbar‘ dabei habe. Sie meinen wohl den ‚Augenschein‘, wie er bei den Bildern auftritt, die bei Spiegeln und Linsen entstehen, wobei dann allerdings nicht nur die sogenannten virtuellen, sondern auch die sogenannten reellen Bilder unter jenen Begriff des ‚Scheinbaren‘ fallen würden. Nehmen wir das einmal an und fragen wir zunächst nach dem genaueren Sinn dieses ‚Scheins‘.

In den meisten Fällen sind mit den optischen Merkmalen der Dinge auch taktile oder genauer taktilokinästhetische Merkmale eng verbunden — derart, dass sich beide immer an ‚derselben Raumstelle‘ finden. Nur unter besonderen Bedingungen wie eben bei Spiegelung und Brechung treten sie auseinander. Man sagt dann etwa: ein schräg zur Wasseroberfläche eingetauchter Stab ‚scheint‘ geknickt zu sein, ist aber in ‚Wirklichkeit‘ ungebrochen. Die in diesem Urteil liegende Bewertung — das ‚Scheinende‘ ist dem ‚Wirklichen‘ gegenüber minderwertig — wollen wir einstweilen ausschalten. Daher bezeichnen wir den Tatbestand nur so: der

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/37&oldid=- (Version vom 9.6.2024)
  1. Minkowski a. a. O., S. 7.
  2. Varićak im Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 21, 1912, S. 103 ff.