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bedingende Ereignis stattgefunden hätte, also auch Systeme, in denen eine durch die Erfahrung gegebene Aufeinanderfolge sukzessiv abhängiger Ereignisse umgekehrt würde.

Nun muss allerdings eingeräumt werden, dass auch der umgekehrte Ablauf alles Geschehens — des psychologischen wie des physikalischen — durchaus als eindeutig bestimmt denkbar ist, aber es ist vieles denkbar, ohne wirklich zu sein. Die Erfahrung zeigt den Ablauf aller Vorgänge nur in dem einen bestimmten, in Wirklichkeit niemals umkehrbaren Sinne, und dem haben sich die Theorien anzupassen. Die Invarianz der ‚Naturgesetze‘ ist ja auch geradezu ausdrückliche Voraussetzung der Relativitätstheorie, denn sie nimmt an, dass sich beim Michelsonschen Versuch in keinem der dreifach unendlich vielen berechtigten Bezugssysteme eine Verschiebung der Interferenzenzstreifen zeigt, wie sie ja auch für alle diese Systeme die Konstanz und gleiche Grösse der Lichtgeschwindigkeit voraussetzt.

Wäre es also eine Konsequenz der Relativitätstheorie, die erfahrungsmässige Gebundenbeit in der Aufeinanderfolge der Ereignisse preiszugeben, so wäre sie keine haltbare Theorie der wirklichen Vorgänge, oder sie müsste wenigstens auf diese Vorgänge besonders eingeschränkt, jene Konsequenzen müssten ausdrücklich ausgeschlossen werden. Ein solches Verfahren wäre sehr wohl denkbar, da ja die Theorien eben nur die Aufgabe haben, die Tatsachen zu beschreiben — wir kommen auf diesen Punkt noch einmal zu sprechen.

Wie wir aber gesehen haben, ist eine solche Einschränkung nicht nötig. Freilich müsste wohl noch die Frage untersucht werden, ob eine verschiedene zeitliche Anordnung von Ereignissen, auch wenn diese der obigen Bedingung entsprechend an hinreichend weit von einander entfernten Orten stattfinden, nicht zuletzt doch einen unzulässigen Eingriff in die gebundene Marschroute der Ereignisse einschliesst. Eine solche Untersuchung liegt meines Wissens bisher nicht vor[1]).

25. Die oben gegebene Ableitung der Grundgleichungen der Relativitätstheorie ist eine Analyse und Beschreibung der Vorgänge, wie sie der ‚mitbewegte‘ und der ‚ruhende‘ Beobachter am Michelsonscher Apparat voraussetzen. Sie musste unternommen werden, um uns die naturwissenschaftlichen Vorgänge, die von der Relativitätstheorie beim Michelsonschen Versuch angenommen werden, bis ins letzte hinein durchschauen zu lassen. Anders wäre eine vollständige erkenntnistheoretische Aufklärung der von den gewohnten Vorstellungen so weit abweichenden Theorie nicht möglich: man hat sonst bei dem Aufstieg zu den höchsten Abstraktionen der Theorie das Gefühl der Unsicherheit,

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/30&oldid=- (Version vom 7.6.2024)
  1. Am eingehendsten hat sich wohl Langevin mit der Relativität der zeitlichen Anordnung zweier Ereignisse beschäftigt. Vgl. dessen für den Erkenntnistheoretiker wichtige Arbeiten: „L’évolution de l’espace et du temps“, Scientia X, 1911, und „Le temps, l’espace et la causalité dans la physique moderne“, Bulletin de la Société française de Philosophie Xii 1912. — Vgl. auch Minkowski a. a. O. S. 8.