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Seiten und Beziehungen. Wenn wir die Wärmevorgänge der Körper untersuchen, so sehen wir zunächst von den elektrischen, optischen usw. Vorgängen ab. Genau so betrachten wir die räumlichen Merkmale der Dinge und die numerischen Merkmale der Mengen allein, ohne ihren Zusammenhang mit der Temperatur, dem elektrischen Potential usw. Gewisse allgemeinste räumliche und numerische Beziehungen werden auf Grund der Erfahrung zunächst ohne ausdrückliche Beachtung dieser ihrer Stellung als allgemeinster Voraussetzungen — an die Spitze der ‚Geometrie‘ und der ‚Arithmetik‘ gestellt, durch Sachen- und Gedanken-Experimente oder — was nichts anderes besagt — durch ‚Synthese‘ erweitert, die neuen Sätze gewöhnlich nach dem Satz des Widerspruchs mit schon feststehenden Sätzen und Begriffen verknüpft, dann geordnet usw., sodass ein System, ein Lehrgebäude entsteht, eine mathematische Theorie, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss, soweit jene obersten Voraussetzungen ihr entsprechen. Kein mathematischer Satz verfügt unbedingt über die Erfahrung, kein einziger ist ein synthetisches Urteil a priori — d. h.: durch ‚reine‘ Synthese gewonnene logische Voraussetzung irgendwelcher empirischen Ergebnisse; denn jeder ist konditional, hypothetisch, sagt nur: wenn A ist, dann ist B, sagt aber nie etwas darüber aus, ob A ist. Es ist daher keinerlei Grund vorhanden, die Mathematik von den Naturwissenschaften zu trennen, sie ist vielmehr in allen ihren Teilen Naturwissenschaft. Nicht nur in der Mathematik, sondern auch in den Naturwissenschaften, aber ebenso etwa in den soziologischen Wissenschaften können Theorien in weitem Masse von weiteren Erfahrungen unabhängig, nur eben niemals von der Erfahrung überhaupt unabhängig entwickelt werden. Schliesslich finden sie aber ihren letzten Richter doch wieder nur in der Erfahrung, schliesslich müssen sich die ‚denknotwendigen‘ mathematischen und überhaupt theoretischen Folgen der ‚Bilder‘ oder ‚Theorien‘, die wir uns von der Wirklichkeit machen, immer wieder als Bilder oder Theorien der ‚naturnotwendigen‘ Folgen jener durch sie ‚abgebildeten‘ Tatsachen erweisen.

Die Relativitätstheorie widerspricht trotz ihrer ausserordentlich weitgehenden Abstraktionen dieser positivistischen Auffassung der Mathematik keineswegs, im Gegenteil ist, wie oben (S. 21 f.) hervorgehoben, die Vielzahl der Räume, in die sie den alten absoluten Raum der früheren Naturwissenschaft, den Newtonschen absoluten Raum, auflöst, eine sehr bemerkenswerte Annäherung an die Vielzahl der Sehräume, mit denen es die Erfahrung in erster Linie zu tun hat.

Auf die hier berührten Fragen soll an anderer Stelle in grösserem Zusammenhang näher eingegangen werden.

20. Die Transformationsgleichungen der Relativitätstheorie für die Zeitmasse der relativ zu einander bewegten Systeme sind etwas weniger einfach als die für die Längenmasse, weil für den Beobachter des einen Systems der Gang der Uhren im anderen eine doppelte Abweichung zeigt. Erstens muss, wie bereits

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/23&oldid=- (Version vom 6.6.2024)