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die physiologisch-psychologische Tatsache erfolgt, dass jeder seinen eigenen Sehraum hat und diesen in eindeutige Beziehung zu den Sehräumen der Mitmenschen setzt[1]). Doch ist noch immer sein physikalischer Raum von diesem Sehraum sehr verschieden: es ist ein metrischer, im besonderen Euklidischer Raum, der eine zwar sehr einfache, aber dafür auch sehr abweichende Abstraktion vom Sehraum ist, eine instinktive, auf den Erfahrungen der nächsten Umgebung beruhende, und dann von der Wissenschaft weiter entwickelte Begriffsbildung.

Mit diesen Bemerkungen wird die Minkowskische Theorie einer vierdimensionalen Welt nicht getroffen: auf deren Bedeutung werden wir noch zu sprechen kommen. Wohl aber enthalten sie eine Ablehnung der Natorpschen Darlegungen[2]).

19. Natorp steht auf dem Platonisch-Kantischen Standpunkt, dass die Mathematik und die ‚reine‘ Mechanik Wissenschaften ganz besonderer Art, sozusagen Ausnahmewissenschaften seien und sich über die Naturwissenschaften an theoretischem Werte weit erhöben; denn die reinen, ‚absoluten‘ Begriffe von Raum und Zeit seien die Voraussetzungen jeder empiririschen Zeit- und Raumbestimmung, also durch diese selbst auf keine Weise abänderlich; der scharfe Unterschied zwischen der einen absoluten, mathematischen und der empirischen, relativen, physikalischen Zeit- und Raumbestimmung müsse streng aufrecht erhalten werden, und im Grunde sei auch die Relativitätstheorie eine unwidersprechliche prinzipielle Bestätigung dieser Auffassung, ja in der Durchführung ihre noch weitere Verschärfung und strengere Ausgestaltung.

Die grosse Frage nach dem Verhältnis von Mathematik und Naturwissenschaften kann hier nicht eingehend erörtert werden. Nur ein paar Bemerkungen.

Es liegt für den durch die Kantische Schule nicht voreingenommenen Forscher gar kein Grund vor, über die mathematischen Begriffsbildungen anders als über die naturwissenschaftlichen und überhaupt irgendwelche sonstigen Begriffsbildungen zu denken. Die Begriffe heben gewisse Seiten und Beziehungen der Dinge und Vorgänge hervor unter Vernachlässigung von anderen solchen

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/22&oldid=- (Version vom 7.6.2024)
  1. Minkowski sagt (s. a. O. S. 7), dass über den Begriff des Raumes hinwegzuschreiten — wie Einstein und Lorentz über den der Zeit hinweggeschritten seien — wohl nur als Verwegenheit mathematischer Kultur einzutaxieren sei. Aber die sinnesphysiologisch begründete Erkenntnistheorie (Hering, Mach) ist über jenen Baumbegriff längst hinweggegangen und zu einer Stellung gelangt, die, wie oben angedeutet, noch jenseits der Minkowskischen liegt. Die Mathematik der Zukunft wird gewiss an die mathematische Darstellung der Eigenart und der Relationen jener Sehräume gehen. — Eine eigenartige Verschmelzung von Raum und Zeit, wie sie für die Minkowskische Theorie charakteristisch ist, hat auch bereits vor mehr als 10 Jahren — Palàgyi vorgenommen: s. dessen Schrift: „Eine Theorie des Raumes und der Zeit. Die Grundbegriffe einer Metageometrie“. Leipzig 1901. Palàgyi s. Vortrag über die Relativitätstheorie auf dem letzten Naturforschertag in Wien ist noch nicht zugänglich.
  2. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Teubner 1910, S. 396 ff.