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18. Die bisher gefundenen Gleichungen haben den Sinn, dass durch sie jedem Punkte eines Koordinatensystems ein Punkt eines mit gleichförmiger geradliniger Geschwindigkeit dagegen bewegten Systems eindeutig zugeordnet oder dass der Raum des einen eindeutig auf den Raum des anderen ‚abgebildet‘ werden kann. Jedem von einer beliebigen Anzahl mit lauter verschiedenen Geschwindigkeiten geradlinig und gleichförmig gegen einander bewegten Beobachtern kommt somit — für jeden anderen dieser Beobachter — ein eigener physikalischer Raum zu, in dem die Räume aller anderen enthalten oder abgebildet sind und die Gesamtheit der physikalischen Gebilde, also die ganze Körperwelt der Natur auf besondere Weise angeordnet ist, und dieser Anordnung entspricht — unter sonst gleichen Bedingungen der Zuverlässigkeit der Messungen usw. — die Anordnung des ersten und die jedes der übrigen gedachten Beobachter. Alle diese Räume durchdringen einander, sind aber keineswegs kongruent, sondern jeder gegenüber jedem anderen verzerrt oder gepresst oder wie man es bezeichnen will. Das lehrt schon ein Blick auf unsere letzten beiden Figuren. Die Angabe über den Ort eines Körpers oder eines Ereignisses hat also nur einen Sinn, wenn zugleich das Bezugssystem mitgegeben wird, und jedes Bezugssystem ist jedem anderen vollständig gleichberechtigt, das sich ihm gegenüber auf die angegebene Weise bewegt. Das ist der Inhalt des physikalischen Relativitätsprinzips, soweit es sich auf den Raum bezieht: kein absoluter Raum mehr und völlige Gleichberechtigung aller Relationssysteme.

Man hüte sich aber, den absoluten Raum auf dem Boden der Relativitätstheorie nun doch wieder dadurch zuzulassen, dass man sich alle diese relativen Räume gleichsam in einen einzigen, sie alle umfassenden Raum eingebettet, sie also als Teile eines allumfassenden Raumes oder den Begriff eines solchen Raumes als ihre Voraussetzung, etwa als ihr logisches a priori, denkt. Ein solcher Ueberraum wäre durchaus zwecklos, in seinen Beziehungen zu jenen relativen Räumen ganz unklar und nur der Anfang einer neuen Metaphysik.

Ueber jenen Räumen steht keiner mehr, und ausserhalb ihrer gibt es keine Natur. Jeder einzelne Beobachter benutzt für die Zwecke seiner Darstellung, seiner Beschreibung der Natur seinen eigenen Raum, erkennt den entsprechenden Raum jedes anderen Beobachters als gleichberechtigt an und setzt seine Darstellung in eindeutige Beziehung zur Darstellung des anderen, bildet dessen Darstellung auf seinen eigenen Raum ab. So enthält schon der Raum jedes einzelnen die Abbildungen der anderen Räume; aber der eigenen Erfahrung entspricht auch nur der Raum jedes einzelnen. Ein absoluter Raum dagegen mit den Erfahrungen aller ist undenkbar, da in ihm jeder Körper zugleich und in derselben Beziehung unendlich viele Gestalten haben müsste, der Widerspruch also zugelassen wäre. Mit dieser Individualisierung des früher allgemeinen Raumes ist eine bedeutende Annäherung an

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/21&oldid=- (Version vom 7.6.2024)