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sondern ringt sich von der alten philosophischen Substanzvorstellung völlig los[1]) und zu einem vorurteilslosen neuen Sehen der Dinge durch. Sie ist der endliche Durchbruch einer neuen Anpassung des Denkens an die gegebenen, experimentell festgestellten Tatsachen. Ein Körper hat für sie eben gar nicht in einem bestimmten Zeitpunkt eins einzige, absolute Gestalt, wie Lorentz es sich noch denkt, sondern unter den Bedingungen die eine, unter anderen, gleichzeitigen Bedingungen im selben Moment eine andere. Wir werden auf diesen Kernpunkt noch ausführlich zu sprechen kommen. Er ist auch unter den Anhängern und Ausgestaltern der Relativitätstheorie einstweilen nur bei wenigen durchgedrungen.

15. Die Verallgemeinerung des eben dargelegten ersten Teile der Theorie des Michelsonschen Versuchs bildet in der Hauptsache die erste Grundgleichung der Relativitätstheorie. Sie ergibt sich nun auf folgende Weise.

Bewegt sich ein Körper geradlinig und gleichförmig in Beziehung auf irgend ein Koordinatensystem, so verkürzt er sich gegenüber seiner Länge in der Ruhelage in diesem System in allen seinen Längen parallel zur Bewegungsrichtung im Verhältnis .

Da nun aber der Körper gleichzeitig als sich in dreifach unendlich vielen Bezugssystemen — und in jeder dieser drei Mannigfaltigkeiten mit unendlich vielen Geschwindigkeiten — bewegend gedacht werden kann, so können ihm auch in jedem Moment von jedem dieser Bezugssysteme aus dreifach unendlich viele Gestalten — alle mit gleichem Recht — zugeschrieben werden.

Wir nehmen zwei Koordinatensysteme an, und — das „gestrichene" und das „ungestrichene“ —, die sich gegeneinander — jedes gegen das andere — mit der gleichförmigen geradlinigen Geschwindigkeit bewegen mögen. Mit den -Achsen mögen sie auf einander fallen, während ihre - und -Achsen parallel sein sollen. Wären beide Systeme in relativer Ruhe, so würden ihre Masstäbe und der Gang ihrer Uhren vollständig übereinstimmen. Sind sie aber mit jener Geschwindigkeit gegeneinander bewegt, so ändern sich, wie wir bereits wissen, für jeden Beobachter der beiden Systeme die Längenmasse des anderen in der Bewegungsrichtung, aber auch — wie wir jetzt schon, späteren Darlegungen vorgreifend, hinzufügen wollen — der Gang der Uhren des jeweiligen anderen Systems.

Diese Aenderung des Uhrgangs des ‚bewegten‘ Systems für den ‚ruhenden‘ Beobachter gilt gewöhnlich für den schwierigsten Punkt der Relativitätstheorie. Er ist aber keineswegs grundsätzlich schwerer verständlich als die oben dargelegte Verkürzung der

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Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/18&oldid=- (Version vom 6.6.2024)
  1. s. Petzoldt, Das Weltproblem usw., a. a. O.