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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

„Ich habe Ihnen gesagt," erwiderte der Pfarrer mit Traurigkeit, „daß ich meinen Stand nicht bloßstellen dürfe durch das Eingestehen meiner lasterhaften Thorheit, und ich gehöre diesem Stande innerlich nicht einmal mehr an, ich habe ihn verlassen und darum reich werden wollen, um unabhängig leben zu können! Nach jenem Unglücksabend, an welchem ich hier mit Ihrem Manne gestritten hatte, war mir ein Stachel im Herzen geblieben, den ich vergeblich hinausreden und wegtrotzen wollte. Ich sah, wie Jukundus bei allem Un- und Mißgeschick religiös so unbeirrt und unbescholten dahin wandelte, und ich konnte nicht umhin, Alles zu überdenken und zu prüfen, was ich leider mit Beziehung auf die sittliche Seite der Sache, in Ansehung des eigenen Herzens seit Jahren nicht mehr gethan hatte. Ich fand, daß ich nicht religiös oder christlich mehr lebe und kein Priester mehr sei!

„Ich mußte mir gestehen, daß ich Jahr aus, Jahr ein, sobald ich allein war, nicht den leisesten Trieb fühlte, des gekreuzigten Mannes zu gedenken, dessen Namen mein Lebensberuf trug und der mich ernährte, daß mein Herz und alle meine Sinne nur an der Welt und ihren Annehmlichkeiten, wenn Sie wollen, auch an ihren Mühen und Pflichten hing, aber ohne daß der leiseste Schauer eigener persönlicher Andacht, die geringste Furcht vor dem, den wir handwerksmäßig

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/492&oldid=- (Version vom 31.7.2018)