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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

bös gewordenes Wesen, das nicht recht thun könne, und er wachte bei ihr, indem er sich auf einen an der Wand lehnenden alten Grabstein setzte, ihrer todten Mutter zu Liebe und weil er ihr selbst sein Leben verdankte.

Küngolt schlief, bis die Sonne aufging, und als sie erwachte, sah sie, daß Dietegen still weggegangen war.

Dergestalt kam er eine Nacht um die andere, bei ihr zu wachen; denn er hielt nach seinem Glauben den Ort für in der That gefährlich für Jemand, der kein gutes Gewissen habe und voll Furcht sei. Jedesmal brachte er ihr etwas zur Labung mit und frug sie etwa, was sie sich wünschte, und er brachte ihr Alles, was ihm recht schien. Er kam auch, wenn es regnete und stürmte und versäumte keine Nacht, und wenn es nach damaligem Volksglauben in Ansehung der Todten und ihres Treibens besonders verrufene Nächte waren, so erschien er um so pünktlicher.

Küngolt ihrerseits richtete sich unvermerkt so ein, daß sie während des Tages ihren Vorhang zog, um sich vor den Neugierigen zu verbergen, wie sie sagte, wenn Leute auf den Kirchhof kämen, in der That aber, um zu schlafen; denn sie liebte es während der Nacht munter zu sein, kein Auge von der dunkeln Gestalt ihres Wächters zu verwenden, und über ihn und sich

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/353&oldid=- (Version vom 31.7.2018)