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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

und zugleich schlug sie lächelnd die Augen zu ihm empor. Es war freilich kein echter und ursprünglicher Blick, sondern einer aus der Fabrik, ein böhmischer Brillant, das fühlte Wilhelm wohl; dennoch war er feurig genug, in ihm eine Reihe von Gefühlen und Gedanken zu erwecken, welche sich schnell wie der Blitz aneinander entzündeten.

„Man muß am Ende die Weiber nehmen wie die Skorpione, den Stich des einen heilt man mit dem Safte, den man dem andern ausquetscht! Was nützt es, die Süßigkeit der Frauen zu verschmähen, weil sie schwach und betrüglich sind? Pflücke die Rosen vorsichtig oben weg und lasse den Stock unberührt, so wirst Du nicht gestochen! Trinke den Wein und stelle den Becher dahin, so wirst Du in Frieden leben! Wer durch die Wüste wandelt, der trinke vom Brunnen der Gelegenheit, und wer einsam ist, der locke die Amsel! Sieh! die Eine geht, die Andere kommt, die ist braun und jene golden; gut ist nur die, so Dich küßt!“

Nicht diese ausführlichen Worte, aber deren frevelhafter Sinn drängte sich in Wilhelms Empfindung zusammen, als er Aennchens Hand ergriff und sie unschlüssig, aber lächelnd ansah. Freilich waren seine Handlungen viel zaghafter als seine Gedanken, und so kam es, daß nach einer Minute nicht er die Schöne,

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/256&oldid=- (Version vom 31.7.2018)