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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

„Was man thun will, das soll man recht thun! Willst du deinen Waldbruder mit einer Vogelscheuche versuchen? Dergleichen Heilige hatten von je einen besseren Geschmack!“

Da meinte Gritli, sie sollte wenigstens die weißen Strümpfe mit schwarzen wollenen vertauschen, es sei noch kühl und feucht! „Dafür hab' ich starke Schuhe“, sagte Aennchen, „die Waden erkältet keine Frau, das weißt Du wohl, mein Schatz!“ – „Jedenfalls mußt Du den Hals besser verwahren!“ bat die Besorgte noch kläglich, und die Unverbesserliche antwortete: „Da hast Du recht! gieb mir jenes seidene Tüchlein, ich kann es nachher in die Tasche stecken, sobald ich an die warme Sonne komme!“

Dann öffnete sie das Fenster und guckte in die Sonntagsfrühe hinaus; es war noch Alles still und die Zeit schien günstig, rasch hinweg zu huschen. Allein Gritli hielt sie mit dem Frühstück so lange als möglich auf und brockte ihr alle möglichen Lieblingsbissen vor, um den Augenblick hinauszuschieben; dennoch erschien er und als Aennchen nun ging, brach die Bekümmerte in Thränen aus. Da kehrte Jene mit großen Augen um und sagte ernsthaft: „Nun, Du närrisches Ding! wenn Du wirklich meinst, es sei nicht zu trauen, so lassen wir’s einfach bleiben! Entscheide Dich! Ich bin bald wieder umgekleidet!“

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/246&oldid=- (Version vom 31.7.2018)