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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Scheidung nicht hätte aussprechen müssen, so machte es den Herren und der ganzen Stadt zu viel Spaß, den armen Viggi seiner schmucken und feinen Frau zu berauben und ihn mit der komischen Kätter zusammenrennen zu lassen, als daß sie die Scheidung nicht ausgesprochen hätten. Sie ward also erkannt auf Grund unvereinbarer Neigungen und Gewohnheiten, roher Mißhandlung von Seite des Mannes, wie Einsperrung in den Keller und rücksichtslose Ausstoßung auf die Straße, und leichtsinniger Fehlgriffe der Frau, wie der Briefverkehr mit dem Lehrer. Doch solle die Frau als unbescholten und unverdächtig gelten, jeder Theil in seinem Vermögen bleiben und zu keinerlei Leistungen verpflichtet sein, so daß Störteler das Vermögen Gritlis, das sie zugebracht, von Stund’ an herauszugehen oder sicherzustellen habe.

Viggi ging mehr niedergeschlagen als fröhlich nach Hause und wunderte sich selbst darüber, da er doch nun frei war von der bedrückenden Last einer geistesträgen und nichtsnutzigen Hausfrau. Allein es fehlte ihm nicht an Aufklärungen und Erläuterungen; denn schon unter der Thür des Gerichtshauses riefen ihm einige Herumsteher zu: O du Erznarr! Du mußt Tinte gesoffen haben, daß Du ein solches Weibchen kannst fahren lassen! Und das artige Vermögen, die runden Schultern, der treffliche Anstand! Hast Du

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)