Seite:Die Leute von Seldwyla 3-4.pdf/174

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

zu veranlassen. Allein sie gab diesen Gedanken sofort auf, um den Respekt gegen ihren Mann nicht zu untergraben. Da fiel ihr Blick auf das Gärtchen eines Nachbarhauses, welches von ihrem Garten nur durch eine grüne Hecke getrennt war, und plötzlich verfiel ihre Frauenlist auf den wunderlichsten Ausweg, welchen sie auch, ohne sich lange zu besinnen und wie von einem höheren Licht erleuchtet, alsobald betrat.

In dem Nachbarhäuschen wohnte ein armer Unterlehrer der Stadt, namens Wilhelm, ein junger, für unklug oder beschränkt geltender Mensch, mit etwas schwärmerischen und dunklen Augen. Derselbe sah für sein Leben gern die Frauen, war aber außerordentlich still und schüchtern und durfte überdies seiner beschränkten und ärmlichen Stellung wegen nicht daran denken, sich zu verheirathen oder sonst dem schönen Geschlechte den Hof zu machen. Er begnügte sich daher, die Schönheit mehr aus der Ferne zu bewundern, und da es für sein Verlangen gleich erfolglos war, ob er eine Frau oder ein Mädchen zum Gegenstande seiner Bewunderung machte, so wechselte er in aller Ehrbarkeit und wählte bald diese, bald jene zum Ziel seiner Gedanken. So lebte er in seinem Herzen wie ein Pascha, und alles Schöne, was Kaffee trank und Strümpfe strickte

Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/174&oldid=- (Version vom 31.7.2018)