wie sie ihre Meinungen und Gefühle vor mich hinstellen, dann gefallen sie mir und ich sehe und höre ihnen zu und gebe mich ihnen hin, ohne darum meine Gefühle, meine Meinungen mit hinzugeben. Wenn ein alter grauslicher Federhalter von Gelehrten, ein Kerl mit Schnupftabak im Bart und einer Sägemühlenstimme, vor mich hintritt und die göttliche Nacktheit der Liebesgöttin preist, womit ich ja ganz einverstanden bin, so finde ich das unausstehlich und wende mich weg. Wenn aber ein schönes Mädchen, dessen Lippen wie schwellende Früchte sind, und dessen rege Brüste den Rhythmus des gesunden Lebens haben und wie rötlich überhauchtes Elfenbein leuchten, Mord und Vernichtung vor mir predigt, so höre ich, obwohl ich ganz und gar nicht für Mord und Vernichtung eingenommen bin, gerne und vergnüglich zu. Ich bin doch kein Staatsanwalt, Otto Julius! Ich habe mich doch nicht um Staat und Moral zu kümmern, wenn die leibhaftige Schönheit vor mir steht. Jeder tue, was seines Amtes ist. Mich geht die Schönheit
Otto Julius Bierbaum: Die Haare der heiligen Fringilla. München: Albert Langen, 1904, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Haare_der_heiligen_Fringilla.djvu/116&oldid=- (Version vom 31.7.2018)