Seite:Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 2 Bd. 35 (1891) 15.jpg

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14.999 Es begab sich damals etwas Neues, was ich in diesem Buche nicht unerwähnt lassen darf. Von der Reise ermüdet, konnte sie nicht wie sonst mit eigener Hand den Armen Almosen reichen und rief einen von den Brüdern, daß er statt ihrer den Armen Geld austheilte. Wie sie befahl, kam man zu den Armen. Nun überstieg die Zahl der Bedürftigen die Zahl der Geldstücke, und der Diener fürchtete, nicht so viel zu haben, als für die Bedürftigen hinreiche. Doch wozu bedarf es noch vieler Worte? In der Erhabenen Verdienst erwies sich die Wunderkraft dessen, dem fünf Brode genug waren, um Tausende Volkes zu speisen. Die Zahl der Geldstücke vermehrte sich und freudig kehrten die Armen mit ihren Geschenken zurück[1].

15. Von da ging sie nach Agaunum, wo der glückselige Fels Tausende von Märtyrerleichen in sich birgt. Wie andächtig, wie ehrfürchtig flehte sie um die Fürbitte des großen Märtyrers Mauritius und seiner Genossen? Wie oft hat sie dort geseufzt, wie oft geächzt, wie oft geweint, wie viele Thränenströme vergossen? Ich glaube es gab keine Sünden, welche damals nicht die ewige Verzeihung verdient hätten.

Betrachtete man das Antlitz der Kaiserin, so schien es erhabener als ein Menschenantlitz; was auch von ihren Lippen kam, man glaubte nicht anders, als daß jenes Prophetenwort[2] sich hervordränge: „Ich schütte meine Rede vor ihm aus und zeige an vor ihm meine Noth.“ Wie groß war ihre Trübsal, ihr liebevolles Mitleid für alle, die von Gottes Geboten abwichen! Mit dem Propheten konnte sie sagen[3]: „Ermattung befällt mich für die Sünder,“ und mit Paulus[4]: „Wer ist schwach und ich werde nicht schwach?“ So beweinte sie fremde Sünden, wie viele kaum ihr eigenes Elend beweinen können.


  1. Im lat. Text sind Bruchstücke von Hexametern kenntlich, aber kein vollständiger.
  2. Psalm 142, 3.
  3. Psalm 119, 53.
  4. 2. Cor. 11, 29.