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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Da traten wir auch schon in den Empfangssalon eines neueren, aber sehr renommierten Photographen in einer etwas abgelegenen Straße. Der Salon lag zu ebener Erde.

Die Kinder waren bereits ungeduldig geworden – ich beschwichtigte sie durch allerlei Versprechungen und hielt sie so in einer gewissen Spannung. Aber nur für kurze Zeit!

Als man uns einige Augenblicke warten ließ, bestand ihre Geduld diese harte Probe nicht mehr. Der Junge begann gegen einige Bilder, die in kostbarem Rahmen auf kleinen Staffeleien standen, so handgreiflich zu werden, daß ich zu thun hatte, mit Aufbietung aller meiner Kräfte ihrem Sturze entgegenzuarbeiten. Die Kleine aber, um die ich mich infolgedessen wenig gekümmert hatte, begann plötzlich herzzerbrechend zu weinen und schrie nach der Mama. Ich sprach ihr gut zu, ich tröstete sie und liebkoste sie und trocknete ihr die nassen, glühenden Wangen und schmeichelte um sie herum, wie ich es nie einem weiblichen Wesen gegenüber gethan, damit sie nur aufhörte mit dem entsetzlichen Weinen, das ihr süßes Gesichtchen so fürchterlich entstellte. Alles vergeblich! Endlich versprach ich ihr die schönste Puppe von der Welt, die ihre Augen von selber auf und zu machen könnte – das half für einige Augenblicke. Natürlich wollte nun aber auch Oskar etwas gekauft haben. Auch das sagte ich zu. Da erschien wie ein rettender Engel eine junge Dame und fragte nach meinem Begehr.

„Ich bitte, die Kinder photographieren zu wollen.“

„Heute?“

„Jawohl – sogleich.“

„Das thut mir unendlich leid – aber jetzt – unmittelbar vor dem Feste, ist es unmöglich, ganz unmöglich. Eben ist Herr Schreiber oben – Sie kennen ihn ja, unsern Heldentenor. Der läßt sich in zehn verschiedenen Rollen aufnehmen. Dann warten noch zwei Herrschaften, die vorgemerkt sind. Sie hätten sich anmelden sollen!“

Ich hätte mich anmelden sollen!

Ja, sie hatte recht. So lange und viel hatte ich über meinen Plan gegrübelt und auf diesen einfachsten aller Gedanken war ich nicht gekommen!

Was half jetzt alle Reue? Ich mußte unverrichteter Sache nach Hause gehen. Und das war das Resultat aller Mühen und Sorgen, die Kinder endlich so weit zu bekommen!

Aber ich war klug geworden. Ich verließ den Empfangssalon des Photographen nicht eher, als bis die Dame uns für morgen genau zu derselben Stunde vorgemerkt hatte.

Sowie wir draußen waren, bestanden die Kinder gebieterisch auf ihrem Schein. – Gegen meine Versuche, die Einlösung auf morgen zu verschieben, zeigten sie sich taub – ja um den Mund der Kleinen zeigten sich schon wieder die unheildrohenden Schüppchen. So eilte ich denn in den nächsten Spielladen und kaufte, was sie wollten.

Zu Hause erregte natürlich mein Einkauf die nicht unberechtigte Kritik meiner Frau. So kurz vor Weihnachten – solche Ausgaben! Und gerade in diesem Jahr, wo wir so aufs Sparen angewiesen waren!


Beinahe hätte ich die Schuld auf Müllers gewälzt und gesagt, die Geschenke stammten von ihnen: doch fürchtete ich, daß mich dies in Widersprüche verwickeln könnte, und rechtfertigte mich damit, die Kinder wären so enttäuscht gewesen, weil bei Müllers niemand außer dem Mädchen zu Hause gewesen sei. Um sie zu entschädigen, habe ich sie dann zu einem Spielwarenhändler geführt und die paar Kleinigkeiten für sie gekauft.

Meine Frau war über Müllers Rücksichtslosigkeit ganz empört.

„Du hattest dich doch angemeldet.“

„Das ist es ja eben – ich habe mich, scheint’s, im Datum geirrt. Wir kamen einen Tag zu früh.“

Meine Frau erklärte sehr energisch, sie würde die Kinder nun jedenfalls nicht so bald wieder hinschicken, ich erlaubte mir entgegengesetzter Ansicht zu sein – ich bestand auf meinem Willen, sie gab nicht nach – der geneigte Leser merkt: es kam zu einer jener intimen häuslichen Auseinandersetzungen, wie sie ihm, auch wenn er in der glücklichsten Ehe lebt, wenigstens vom Hörensagen bekannt sind.

Wir standen vom Tisch auf – ich erhielt nur eine flüchtige Handberührung, während ich sonst freundlicher behandelt wurde. Die Stimmung blieb gereizt. Ich hatte jetzt schon genug von diesem Märtyrertum. Hätte ich geahnt, was alles mir noch bevorstand!

*  *  *

Es war am anderen Tage mittags Punkt halb ein Uhr. Ich stieg vom Empfangssalon aus mit den beiden Kindern, die ich nicht ohne große Mühe und neue nicht gerade sehr schmeichelhafte Aeußerungen meiner kleinen Frau über die Familie Müller vom Hause losgerungen hatte, halb sie führend, halb sie tragend, die schier unendlichen Treppen empor, die in das Atelier des Photographen führten.

Solch ein Photograph !

Wohl hundertmal in dieser einen Stunde habe ich dem Manne die Ungerechtigkeit abgebeten, mit der ich seinem Amte bisher gegenüberstand, ohne mir je die leiseste Vorstellung von der Schwierigkeit und der unbeschreiblichen Vielseitigkeit seiner Arbeit zu machen. Wer je in seinem Leben Kinder hat photographieren lassen und nicht in Bewunderung und Hochachtung vor der Kunst eines solchen Mannes und seiner rührenden Geduld zerflossen ist, dem möchte ich die Fähigkeit für solche Empfindungen überhaupt absprechen.

Was der Mann nicht alles anstellte! Was er den Kindern erzählte und versprach und vormachte, mit welcher ergreifenden Langmut und Selbstverleugnung er wieder und immer wieder an ihnen herumnestelte und arbeitete und zupfte, vor ihnen tänzelte und sang und sprang und gestikulierte – es war unbeschreiblich!

Als alles nichts half und ich, völlig verzagt, der festen Meinung war, jetzt gäbe auch er die Sache endgültig auf, da lächelte er noch mit derselben unerschütterten Ruhe und Freundlichkeit mir zu und sagte:

„Jetzt fangen wir erst an!“

Und siehe – vor meinen staunenden Augen ließ er nun aus allen möglichen geheimnisvollen Schlupfwinkeln seines Ateliers ein Spielwarenlager aufmarschieren, das einem großen Magazine alle Ehre gemacht hätte: zuerst zwei krähende Hähne, dann eine Puppe – wieder eine Puppe – ein Pferd – einen Reiter dazu – Papageien – tanzende und Glieder verrenkende Marionetten – Soldaten – eine Kasperlefigur und noch vieles andere.

Und mit allen diesen Dingen tänzelte und sang und sprang und gestikulierte er nun aufs neue vor den Kindern herum, mit schärfstem Blick immer nur die ihm für eine günstige Aufnahme geeignete Sekunde erspähend.

Aber so wie diese sich ergab und er auf den kleinen Gummiball,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0823.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)