Seite:Die Gartenlaube (1898) 0770.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Fürsten und Herrscher ein besonderes Interesse für übernatürliche Dinge, für Geister- und Gespenstergeschichten und Wahrsagungen vorhanden ist, eine Schwäche, von der übrigens, wie er ausdrücklich hervorhebt, Kaiser Wilhelm selbst gänzlich frei gewesen sei. Schneider erklärt diese Erscheinung durch den unheimlichen Reiz, den die Vorstellung von unerklärlichen Einflüssen, die auch dem Mächtigsten nicht erreichbar sind und denen auch der gewaltigste Herrscher unterworfen ist, für die Mächtigen der Erde hat.

Ueber die Art und Weise, wie die Lenormand ihre Kunst ausübte, berichten uns verschiedene Zeitgenossen, so ein deutscher Geistlicher, den die Ereignisse von 1813 nach Paris geführt hatten. Die Wahrsagerin ließ sich für das „grand jeu“ („große Spiel“) 4 Napoleonsd’or und für das „petit jeu“ („kleine Spiel“) die Hälfte bezahlen, je nachdem ihre Prophezeiungen eingehend waren. Sie fragte den Besucher nach dem Anfangsbuchstaben seines Taufnamens, seines Vatersnamens, seines Heimatlandes und seines Geburtsortes, nach dem Tage der Geburt und endlich nach dem Namen seiner Lieblingsblume, seines Lieblingstieres und desjenigen Tieres, das ihm am meisten zuwider sei. Dann breitete sie nach den üblichen Vorbereitungen durch Mischen und Abheben eine Anzahl der verschiedenartigsten Kartenspiele auf dem Tische aus, und endlich studierte sie die Linien der Hand. Man sieht, daß sie einmal auf eine gewisse Charakteristik des Besuchers ausging und anderseits nicht nur das Kartenschlagen, sondern auch die Handwahrsagerei oder Chiromantie pflegte. Zum Schluß äußerte sie sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Besuchers in längerer Ausführung, die sie auf Wunsch auch schriftlich gab. Im übrigen verschmähte sie den mystischen Humbug in ihrem Aeußeren und ihrer Umgebung und war entsprechend ihrer eleganten Kundschaft mehr Weltdame als Zauberin und Hexe. Wie einträglich ihr Gewerbe war, zeigte sich bei ihrem Tode. Als sie im Jahre 1842 starb, hinterließ sie ein Vermögen von über einer Million Franken und eine ganze Anzahl kostbarer Gemälde und Kunstwerke.

Mlle. Lenormand – sie ist unverheiratet geblieben – bezeichnet den Höhepunkt der Kartenschlägerei. Keine ihrer Nachfolgerinnen hat im entferntesten wieder die Bedeutung gehabt und solche – Einnahmen wie sie. Die Zeiten waren der Wahrsagerei nicht mehr so günstig wie früher, der Aberglaube hatte aufgehört, Mode zu sein. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts gelang es in Paris noch einmal einem Wahrsager nach der Art der Lenormand, einem gewissen Edmond, einigen Ruf zu erlangen und die höheren Kreise der Gesellschaft anzuziehen, indessen war das nur eine vorübergehende Erscheinung.

In Deutschland hat die Kartenschlägerei niemals ähnliche Blüten hervorgebracht wie in Frankreich. Vereinzelt haben wir Beispiele, daß geschickte Schwindler und Schwindlerinnen einen größeren örtlichen Wirkungskreis gefunden und mehr oder weniger große Einnahmen erzielt haben, irgendwelche zeitgeschichtliche Bedeutung haben solche Erscheinungen nicht gehabt. Heutzutage blüht der Aberglaube vorzugsweise im geheimen. Wir wollen nicht behaupten, daß er ausschließlich auf die Ungebildeten beschränkt sei; denn gelegentlich zeigen uns Gerichtsverhandlungen, wenn es einmal einem solchen Betrüger gefährlicherer Art an den Kragen geht, daß auch in den gebildeten Kreisen die Anhänger der Wahrsagerei nicht fehlen. Aber es ist nicht mehr „guter Ton“, an dergleichen zu glauben; man schämt sich heutzutage, zu einer Wahrsagerin zu gehen, weil es als ein Zeichen von Unbildung gelten würde. Zum Teil wird die Kartenschlägerei ja vielfach als Scherz geübt, als harmlose Unterhaltung wie das Bleigießen in der Sylvesternacht und ähnliches. Insgeheim aber hat sie ihre Anhänger und besonders Anhängerinnen. Auf dem flachen Lande sind es umherziehende Zigeuner, Hausierer, Handels- und Jahrmarktsleute, die vor dem leider immer noch sehr abergläubischen Landvolk ihre schmutzigen Karten ausbreiten, stets in Furcht vor dem Gendarm und der Polizei. In den Städten sind es gewöhnlich einzelne ältere Frauen, die im geheimen ihren Kundenkreis haben, ganz besonders unter den Mädchen, denen der Liebste untreu geworden ist, oder die wissen wollen, ob er sie heiraten wird. Aber man sagt, daß mitunter – natürlich inkognito – auch andere Leute erscheinen. Ja, diese Kartenschlägerinnen kündigen sich sogar in den Zeitungen an, allerdings sehr verblümt, denn unsere Rechtsprechung steht auf dem Standpunkt, daß die öffentliche Ankündigung der Wahrsagerei als „grober Unfug“ aus § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuches zu bestrafen ist. Es ist das eine der bekannten freieren Auslegungen des „Groben-Unfug-Paragraphen“, die gewiß in diesem Falle nicht zu tadeln ist. Ebenso können in dem Wahrsagen gegen Entgelt unter Umständen die Voraussetzungen des Betruges gefunden werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Kartenschlägerei, wie viele andere abergläubische Bräuche, im Abnehmen begriffen ist. Anderer, mehr moderner Aberglaube ist an ihre Stelle getreten.



Blätter und Blüten.


Waldfriedhof.
(Zu dem Bilde S. 765.)

Am Hügelsaum kennst du den Mauerrand?
Dahinter liegt das stillste Stückchen Land!
Wie milde Trauer träumt es dort waldein
Im Abendschein.

Die Fichtennadeln regnen fort und fort
Ganz leis aus eingesunk’ne Gräber dort;
Die Drossel singt ein Lied von süßer Ruh’
Den Toten zu.

Es ist, als schliefen dort im Waldpalast
Der Menschheit letzte Sprossen ihre Rast:
Und um sie webt goldgrün ihr Totenkleid
Die Ewigkeit!
  Max Haushofer.

Aufruf für Edmund Stubenrauch. Ein tragisches Geschick hat den bekannten thüringer Volksdichter Edmund Stubenrauch in Hellingen im Herzogtum Koburg ereilt. Der Poet, der den Pflug besang, mit dem er seine Heimaterde bestellte, den Bach, an dem er nach heißem Mühen träumend rastete, die Sterne, die ihm auf dem Heimweg erstrahlten, und den Nachtwind, der ihm geheimnisvolle Märchen zuflüsterte, hat jetzt Abschied nehmen müssen von allem, was so lebensvoll zu ihm sprach, was er durch die Macht seines quellfrischen dichterischen Gemüts beseelte. Zu lange war Frau Sorge seine Begleiterin gewesen; sie entwand ihm die Laute und umringte ihn mit den schwarzen Schatten, von denen jetzt sein kranker Geist sich verfolgt wähnt. So ist ein Poet aus der Reihe der Schaffenden gedrängt worden, den die Kritik nach seiner letzten verheißungsvollen Gabe „Pflug und Laute“ (Verlag von Baumert u. Ronge in Großenhain) als einen wahren Volksdichter, bei dem größte Innigkeit mit markiger Kraft sich verschmolz, feierte, und so ist ein Mann im Staub der Straße verschmachtet, ehe er für die Zukunft der Seinen zu sorgen vermochte. Sein Gütchen seinem heranwachsenden Sohne zu erhalten, bildet jetzt die Sorge seiner Frau und seiner Freunde. Wer dazu helfen will – und gewiß werden sich im Leserkreise der „Gartenlaube“ viele finden, die nicht ohne innere Anteilnahme von diesem düsteren Poetenlos hören und zu einem Liebeswerk beitragen wollen – sende sein Scherflein an die Kasse der Koburg-Gothaischen Kreditgesellschaft in Koburg, von der die gesammelten Spenden der Frau Stubenrauch eingehändigt werden sollen.

Erdpyramide in Südtirol. (Zu dem Bilde S. 741.) An vielen Punkten Tirols verteilt finden sich merkwürdige Erdgebilde. Auf einem senkrechten oder pyramidal nach oben sich verjüngenden Felsenpfeiler ruht ein großer Block hutähnlich aufgesetzt. Schon beim Ueberwinden der ersten Brennerhöhe bemerkt man bei Station Patsch diese sonderbaren Gestalten jenseit der Schlucht sich über der vielfach gewundenen Brennerstraße erheben; bei Bozen finden sich ihrer gegen hundert in der Nähe von Klobenstein (vgl. die Abbildung S. 449 im Jahrgang 1896) und weiter zu gegen Meran über dem Schloß Tirol treten solche Pyramiden fast nadelförmig auf.

Die Entstehung dieser interessanten Gebilde ist an besondere Bedingungen geknüpft. Nur da, wo einstmals vor unvordenklichen Zeiten gewaltige Gletscher Moränen vor sich hergeschoben haben, oder wo von den Bergen herab in den Rinnsalen alter Wildwässer Jahrtausende hindurch der Trümmerschutt der Felsen sich anhäufte, können Erdpyramiden entstehen. Dieser Trümmerschutt muß aber auch noch eine besondere Zusammensetzung haben; es müssen vereinzelte große Felsblöcke oder Platten, möglichst wagerecht gelagert, in einer aus kleineren Steinen gebildeten Masse stecken. Während nun Regen und Ablaufwasser der Berghänge das leichtere Geröll fortschwemmen, beschützt die große Felsplatte wie ein Regenschirm die unter ihr liegenden kleineren Gesteinspartikeln, die sie durch ihren Druck noch dazu fester zusammenhält. Und so kommt es, daß aus dem allmählich abgetragenen Grunde ein Steinpfeiler emporragt, wie ihn unsere Abbildung zeigt, die nach einer bei Ruine Ravenstein in der Nähe von Bozen stehenden Erdpyramide gefertigt ist. Da das Gestein meistens sehr fest zusammengebacken ist, schreitet die Verwitterung nur langsam fort, und derartige Gebilde können daher weit über ein Menschenalter hinaus scheinbar unverändert an gleicher Stelle stehen, bis endlich die rastlose Arbeit der kleinen Kräfte, die unsern ganzen Erdball umformt, ihren

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0770.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)