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arbeitenden Kopf ihre Dämmerschleier, bis das Bewußtsein darin versank und einige Stunden traumlosen Schlafes ihn umfingen.

*  *  *

„Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“ Durch das Dämmern des Regenmorgens klang klagend feierlich der Ruf der Muezzin, und von fernen Minarehs tönte es wie ein Echo im Frühlicht wieder: „Beten ist besser denn Schlaf!“ – „Eine Stunde bis zum Tode!“ und wieder, mit der dröhnenden Wucht tiefer, kräftiger Männerstimmen: „Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“

Der Baß der Gebetrufer weckt die Gläubigen. Daß der ungläubige Christ die fünfte Stunde nicht verschläft, dafür sorgen die Flöhe von Tetuan. Ist die erste bleierne Ermattung vorüber, so findet er vor dem Andrang der Quälgeister keine Ruhe mehr und giebt, das Lager räumend, den hoffnungslosen Kleinkrieg verloren.

Unten, in dem viereckigen Mittelraum der Fonda herrschte schon Leben, als der Afrikaner ärgerlich, in seinen Mantel gewickelt, die Treppe herabstieg. Die Wirtin, eine dicke Spanierin, und ihre leidlich hübschen Töchter gingen in saloppen Morgenjacken, die Haare flüchtig aufgesteckt, hin und her, ein paar barfüßige Mägde räumten auf und schürten das offene Herdfeuer, dessen prasselnde Reisigglut ihren Flackerschein über einige halbschlafend davor kauernde, in abenteuerliche Fetzen gewickelte braune Gesellen warf. Ein kleiner verschmitzter Berberjunge, der die Kapuze seines regentriefenden Mäntelchens hoch über den Kopf gezogen hatte und von hinten wie ein verirrter Gnom aussah, stand, sich die Pfötchen am Feuer wärmend, fröstelnd neben ihnen. Auf der anderen Seite winkte aus einem Nebenraum ein ganz einladend gedeckter Tisch.

Wenn es dem Sennor gefällig sei, möge er dort Platz nehmen und sich nur noch eine Viertelstunde gedulden, dann sei der Kaffee fertig!

Allein der Sennor zog es vor, dem zweifelhaften Dunst der spanischen Häuslichkeit zu entfliehen. Er stieß die Thür auf und trat auf die Gasse hinaus.

Eine Seitengasse, von Kot und Wasserlachen strotzend, vielfach von Hausbögen überwölbt, so daß sie halb einem schmalen Schacht, halb einem Tunnel glich. Auch auf ihr regte sich unter dem Ruf der Muezzin schon der neue Tag. Verschleierte Berberfrauen gingen, lautlos mit ihren bräunlichen Beinen den Schlamm durchmessend, vorbei; von halbwüchsigen Burschen getrieben, liefen bepackte Saumtiere und Esel geduldig ihren Weg; aus irgend einem Spalt in einem gegenüberliegenden Hause schob sich, schwarz, unförmlich dick und scheußlich wie eine Kröte, eine alte Negersklavin, hob prüfend den wolligen Grauschädel zum Himmel empor und kroch kopfschüttelnd wieder in ihre Höhle zurück.

Dann wieder trappten Roßhufe um die Ecke. Ein vornehmer Marokkaner ritt, fest in seinen weißen Burnus gewickelt, daher. Sein beinahe schwarzes, auf Blutmischung mit der Negerrasse deutendes, von krausem Vollbart umrahmtes Gesicht hatte einen finstern, grausamen Ausdruck. Er würdigte den Fremden, den die Weiber und Leute aus dem Volk mit unverhohlener Neugier angestarrt, keines Blickes und zog langsam weiter in den Regen hinaus.

Regen, trostloser Landregen über einer morgenländischen Stadt, die, wie nichts anderes auf der Welt, blauen Himmel und Sonnenglut verlangt, um ihre bestrickend bunte Eigenart zu zeigen. Jetzt war das alles wie weggespült von den rastlos niederströmenden Fluten. Die streng nach außen abgeschlossenen, kaum mit ein paar vergitterten Fenstern versehenen Häuser, der breiige Morast zwischen ihnen, die triefende Himmelswölbung darüber – wie traurig war das alles, wie öde! Ein Gähnreiz lag über allen Dingen. Man konnte am Leben verzweifeln.

Und doch fühlte sich der Forschungsreisende heute viel besser als am Tag zuvor. Das Fieber war gewichen. Auch die Schmerzen von dem Sturze hatten aufgehört und in der herbstlichen Kühle des Morgens empfand er einen lange in dem Wüstenbrand entbehrten Hunger. Er frühstückte nun mit allem Ernst, von den hübschen, schlampigen Töchtern des Hauses bedient. Aber kaum war er mit den mächtigen, dickschaligen Orangen am Ende der Mahlzeit angelangt, so trieb es ihn wieder hinaus in die frische Luft. Für ihn, der nun so viele hundert Nächte im Zelt unter freiem Himmel, in Negerhütten oder den Häusern der Araber zugebracht, war diese schmutzige und übelriechende Karikatur eines europäischen Hotels ein Greuel.

Wieder stand er draußen auf der Gasse, deren Ueberwölbung ihn vor dem Regen schützte, und schaute in die graue Welt hinaus, Stunde um Stunde, die Cigarette zwischen den Zähnen. Afrika hatte ihn Geduld gelehrt.

Immer stärker brandete jetzt um ihn her das Leben der erwachenden Stadt. Aber es war immer dasselbe Bild, die Einförmigkeit des Orients, der keine Sonderart kennt. Immer die gleichen braunen Gestalten in weißem Mantel, gelben Schlappschuhen und hohen Kapuzen, die gleichen verschleierten Frauen mit den neugierig herumrollenden Augen, die Lastesel, die Ziegen- und Schafherden, die kaum bekleideten Negersklaven, halb Affen, halb grinsende Menschen, die in Lederschläuchen das Trinkwasser schleppten, dazwischen einmal ein Mekkapilger in weißem Turban, ein Schwarm Juden in langem schwarzen Kaftan, schwarzem Käppchen und roter Leibbinde – als wären es immer ein und dieselben Menschen, so kamen die Gestalten, verschwanden und kehrten wieder im Rieseln des Regens.

Aber jetzt tauchten zwei neue Erscheinungen auf, die, wenn auch in Tetuan nicht ungewohnt, doch allgemeines Aufsehen erregten: zwei Europäer! Nicht von der nach Tausenden zählenden spanischen Judengemeinde, deren vorgeschrittenste Glieder auch schon europäische Tracht trugen, ohne doch voll gerechnet zu werden – nein, zwei richtige „Jnglès“, im Reitanzug, den Spazierstock in der Hand, die Stummelpfeife zwischen den Lippen.

An dem seltsamen Unterschied ihrer Körperlänge erkannte der Forschungsreisende schon von weitem die beiden Gentlemen von gestern abend, die Freunde Angelas. Der knochige Hüne rechts mit dem langen, fuchsroten Schnurrbart war der Prinz, von dem sie gesprochen, sein Begleiter, eine kleine, sehniggedrungene Figur, auf der ein glattrasierter, ausdrucksvoller Napoleonskopf saß, der Goldmensch aus Transvaal! Sie standen beide zu Mitte der Dreißig.

„Well, Sir!“ der Yankee trat, lässig den Hut lüftend, heran. „Ich bin erfreut, einem so prominenten Mann die Hand zu schütteln. Mein Name ist Franklin Moore.“

„Ysselstein!“ sagte sein langer Begleiter düster und lakonisch, und dem Afrikaner fiel bei dem Klang des Namens ein, daß dieser gefürstete Nachkomme eines alten Raubrittergeschlechts auch einen Ruf in der Wissenschaft genoß. Allerdings in seiner Weise. Prinz Eitelwulf von Ysselstein war ein Mann, dessen Stumpfsinn alle stubenforschenden Gelehrten zur Verzweiflung brachte! Er führte die schwierigsten Hochgebirgstouren in Europa, in Südamerika und Neuseeland aus, ohne auch nur daran zu denken, daß man durch Höhenmessungen und physikalische Beobachtungen das Herz seiner Mitmenschen erfreuen konnte! Ihm genügte es, daß er oben gewesen war. Alles andere war ja Unsinn! Und ebenso brachte er von seinen tollkühnen Ritten durch Centralasien, seinen Jagdausflügen an der Goldküste und in der Kalahariwüste nicht eine Notiz, nicht eine Thatsache von geographischem Wert aus den vielfach noch unerforschten Ländern mit. Ein Verzeichnis der geschossenen Elefanten und Büffel war das Einzige, was man ihm bestenfalls entlockte. Um sonstige Kleinigkeiten hatte er sich nicht gekümmert und wußte keine Auskunft zu geben. Schließlich hatte man daran verzweifelt, den Kraftmenschen zu den Pflichten des 19. Jahrhunderts zu bekehren, und ließ ihn seine abenteuerlichen Wege wandern, die ihn, wie einst seine Vorfahren über mondbeschienene Heiden und Waldgestrüpp, ziel- und zwecklos über Wasserstraßen und Karawanenpfade von einem Weltteil zum anderen führten.

„Wie befinden Sie sich, Herr?“ fuhr indessen der Kleine heiter lächelnd fort: „Leidlich? Freut mich zu hören! Wir beide sind schon seit Morgengrauen auf! Unter uns gesagt … es ist etwas Eigentümliches um dies … dies Nachtleben in Tetuan. Ich schätze die Zahl der Flöhe hier bedeutend höher als an irgend einem anderen Platz der Welt, den ich kenne!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0678.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2023)