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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

bezeichnet als normale Sehleistung diejenige, bei welcher solche Zeichen unter dem Winkel von einer Minute, also in der bestimmten Entfernung, noch erkannt werden.

Buchstaben werden freilich leichter erraten; jeder, der einmal einen Druckbogen korrigiert hat, weiß, daß es fast nie gelingt, alle Druckfehler auszumerzen, weil man eben nicht jeden Buchstaben liest, sondern viel errät und in Gedanken ergänzt. Helmholtz meinte, daß auch die Bewegung der Augen mithilft, so daß das Bild eines Buchstabens sich nacheinander auf verschiedenen Gruppen von Sehzapfen abbilden kann. Auch kommt sehr viel auf die Form der Buchstaben an. Die Lücke im lateinischen O wird in der Ferne viel leichter als die Lücke im C von der Lücke im G unterschieden; das B wird schwerer entziffert als das L.

Fig. 3.

Gruppen von Punkten sind besser. Sie wurden schon vor 35 Jahren von Professor Snellen in Utrecht empfohlen. Aber auch hier ist eine Gruppe von 5 Punkten nicht gut zu vergleichen mit der Zusammenstellung von nur zwei Punkten: Snellen zeichnete eine solche Tafel mit Punkten von 5 mm Durchmesser, welche in einer Entfernung von 16 m dem Auge unter einem Gesichtswinkel von einer Minute erschienen, also auf 16 m vom gesunden Auge getrennt gesehen werden müssen.

Aber noch besser sind für die Bestimmung namentlich der Sehschärfe bei Naturvölkern und ungebildeten Menschen die hakenartigen Zeichen, welche Snellen vor drei Jahrzehnten konstruiert hat, Figuren, ähnlich einem E und die nach verschiedenen Seiten offen sind, also z. B. M, W, ∃ , E (Figur 5). Diese Haken sind so gezeichnet, daß jeder Strich der Figur genau in 6 m Entfernung dem Auge unter einem Gesichtswinkel von einer Minute erscheint.

Ich habe schon im Jahre 1886 eine kleine „Tafel zur Prüfung der Sehschärfe der Schulkinder, Soldaten, Seeleute und Bahnbeamten“ herausgegeben, welche 36 solcher Figuren in 6 Reihen enthält (Verlag von Priebatsch in Breslau). Diese Haken müssen also vom gesunden Auge bis 6 m erkannt werden. Der Leser versuche es einmal bei Figur 5 selbst, ob er sie bis 6 m erkennt.

Bei Massenuntersuchungen kommt es darauf an, daß die Zuschauenden die Tafel nicht auswendig lernen und dann bei der eigenen Prüfung die Zeichen raten. Das ist hier ganz unmöglich, denn niemand kann selbst beim besten Gedächtnis sich diese 36 Zeichen von oben nach unten, von rechts nach links, von vorn nach hinten und umgekehrt auswendig merken, und die Variationen sind darum so mannigfach, da man sie durch Drehung der Tafel noch viermal ändern kann. Als kleiner Uebelstand machte sich bei den Untersuchungen, die ich seitdem vornahm, doch geltend, daß die weniger intelligenten Personen oft nicht verstanden, ob sie einen Haken über oder unter oder neben dem Stabe, mit welchem man zeigte, lesen sollten; auch zeigten die Gehilfen zuweilen mit dem Stabe zu dicht unter den Haken oder gar direkt darauf, so daß es in der That schwer wurde, in der Ferne zu unterscheiden, über welchen Haken man Auskunft wünschte.

Damit solche Prüfungen nun noch leichter und schneller möglich werden, hatte ich die Tafel in der fünften Auflage verbessert. Nur 8 solche Haken sind, wie in Figur 6, in einem Kreise auf weißen Karton gedruckt. Ueber dieser kleinen handlichen Scheibe von nur 9 cm Durchmesser befindet sich, um denselben Mittelpunkt drehbar, ein Stück blauen Kartons, welches eine runde Oeffnung (a b c d) von 2,5 cm besitzt und immer nur einen der 8 E Haken sehen läßt. Ein Gehilfe – selbst ein ganz kleines Kind kann dazu gebraucht werden – dreht die obere Scheibe nach jeder Probe beliebig weiter nach rechts oder links, bis ein anderer Haken zum Vorschein kommt. Es kann hier kein Mißverständnis dabei entstehen, welcher Haken erkannt werden soll. Auch diese Tafel kann an allen 4 Seiten an Oesen aufgehängt werden; es fehlt also nicht an Variationen.

Außerdem wurde dem neuen Täfelchen eine kleine, aus Karton ausgeschnittene Gabel (Figur 7) beigelegt, welche der Geprüfte einfach in der Richtung halten muß, in der ihm der Haken offen erscheint; sie ist sehr praktisch, da man nun nicht mehr nötig hat, Naturvölkern, Ungebildeten oder Kindern die Schwierigkeiten des Rechts oder Links auseinanderzusetzen.

Mit dieser Tafel kann jedermann, auch wenn er nicht Arzt ist, mit Leichtigkeit in einer Minute die Sehleistung eines Menschen feststellen. Er stellt den zu Untersuchenden in 20 m Entfernung von der Tafel, in welcher nur in den allerseltensten Fällen ein Auge noch die Haken erkennt, läßt ihn immer näher herankommen und notiert die Anzahl von Metern, in der derselbe bei mehreren ihm gezeigten Haken angeben oder mit der Gabel richtig zeigen kann, ob sie oben, unten, rechts oder links offen sind. – –

Ein Bruch, dessen Zähler die gefundenen Meter und dessen Nenner 6 ist, giebt die Sehleistung.

Wurden also diese Haken in 6 m richtig erkannt, so ist die Sehleistung Sl. = 6/6, d. h. normal; kann der Untersuchte sie sogar aus 12 m Entfernung deutlich sehen, so ist Sl. = 12/6 = doppelt so groß als normal; muß er aber bis 2 m herankommen, um die Haken noch zu erkennen, so ist Sl. = 2/6 = 1/3 der normalen.

Mit Hilfe der Tafel und der Gabel ist es natürlich auch leicht möglich, kleine Kinder, die den ersten Tag zur Schule kommen, auf ihre Sehleistung zu prüfen; man kann also schon vor dem Beginn des ersten Lese- und Schreibunterrichtes die wichtige Frage entscheiden, ob das Kind normale Augen hat oder nicht. Um diese Prüfung noch einfacher zu gestalten, habe ich zum Gebrauche für Massenuntersuchungen von Schulkindern jetzt in der 8. Auflage nur einen einzigen Haken auf die Vorderseite und einen anders gestellten Haken auf die Rückseite eines Cartons drucken lassen; durch Drehungen und Wendungen des Cartons wird genügend Abwechslung geboten, wie die soeben in Breslau an Schulkindern vorgenommenen Messungen gezeigt haben.

Fig. 4.

Alle diese Sehproben müssen aber unter freiem Himmel gemacht werden. Als ich vor 33 Jahren 10000 Schulkinder in Breslau untersuchte, machte ich die Prüfungen in den Schulzimmern; sie werden sonst in den ärztlichen Sprechzimmern vorgenommen. Allein schon 1871 zeigte ich in Schreiberhau, einem Dorfe im Riesengebirge, daß die Sehleistung im Freien viel größer wäre. Als im Jahre 1882 das vortreffliche Photometer von Leonhard Weber erfunden war, konnte ich durch Messungen nachweisen, daß im Freien die Tafeln immer noch heller beleuchtet seien als an dem Fenster in den hellsten Schulklassen. Die Untersuchung im Freien ist auch darum vorzuziehen, weil es kaum so große Zimmer giebt, als für die Bestimmung der Sehschärfe nötig ist. Man hat bisher angenommen, daß die hier gezeichneten Haken (Fig. 5) vom gesunden Auge nur bis 6 m erkannt werden. Unter freiem Himmel werden sie jedoch viel weiter gesehen.

Wollen wir die wirkliche Sehleistung des Menschen mit unbewaffnetem Auge feststellen, so müssen wir ihm die Möglichkeit der Fernsicht bieten wie in der Natur. Man muß also, da ich Personen gefunden, die diese Haken selbst bis 20 m noch deutlich erkennen, eine Bahn von 20 m Länge auf der Erde mit Strichen bezeichnen und dort den zu Prüfenden antreten und allmählich immer näher kommen lassen, bis er die Haken deutlich erkennt.

Nach diesen Prinzipien untersuchte ich die Schulkinder in Schreiberhau 1871, die Greise in Schreiberhau 1874, die Nubier 1879, die Helgoländer 1896, die Kalmücken 1897 und in diesem Jahre einige ägyptische Volksstämme. Die Resultate dieser sowie einiger von anderen Aerzten angestellten Untersuchungen waren folgende:

Die Nubierkarawane bestand aus 11 Personen; 9 von ihnen hatten doppelte Sehleistung und mehr; einer sogar zweiundeinhalbfache. Am merkwürdigsten aber war, daß Ali Billal, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0662.jpg&oldid=- (Version vom 2.5.2022)