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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Nun konnte man also auf den Schlüssel warten! In schneidenden Stößen pfiff der Wind um Mauer und Türme; vom Himmel, an dem nur noch vereinzelt Sterne zwischen den Wolkenwänden blinkten, spritzte ein feiner Sprühregen mit eiskalten Nadelstichen hernieder.

„Es ist schauderhaft!“ sagte die helle Stimme wieder. „So etwas kann einem das Reisen verleiden! Lieber Lebensgefahr als Schmutz und Langeweile!“

Ihre Begleiter erwiderten nichts. Sie schienen im Gedränge wieder etwas abseits geraten. Aber neben ihr lüftete die dunkle Gestalt des Fremden den Hut.

„Guten Abend, Frau Angela!“ sagte er gleichmütigen Tons, als hätten sie sich gestern erst im Ballsaal getrennt und sei ihr Zusammentreffen die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Die Gestalt im Sattel bog sich vor. „Sind Sie das, Prinz?“ frug sie halblaut und betroffen. „Was haben Sie denn auf einmal für eine sonderbare Stimme?“

„Ich bin kein Prinz … Gott sei gelobt!“

„Ja, Franklin Moore sind Sie doch auch nicht?“

„Ich habe keine Ahnung, wer Franklin Moore ist!“

„Ja … wer sind Sie denn dann?“

„Kennen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr? Wir haben uns doch schon oft genug auf dieser Lehmkugel getroffen, Frau Aventiure? Wissen Sie nicht mehr, wer Sie zum Scherze so getauft hat … hoch oben auf dem Gipfel des Montblanc … bei unserer allerersten Begegnung …?“

„Sind Sie es?“ Es fuhr wie ein Ton des Schreckens aus ihrem Munde.

„Nun … natürlich bin ich es! Wo haben Sie denn nur im Dunkel Ihre Hand? Ich möchte Ihnen doch Guten Tag sagen!“

Aber die Schattengestalt vor ihm drängte verstört ihr Pferd hinweg, in ein Gewühl von Ziegen und Hammeln hinein. „Sie sind doch tot!“ sagte sie halblaut und beklommen. „Sie sind doch längst tot!“

Er folgte ihr und stieß mit spornbewehrtem Fuß die um die Beine des Rosses strudelnden wolligen Pelze zur Seite.

„Halten Sie mich für ein Gespenst?“ frug er lachend. „Woher wissen Sie denn, daß ich tot bin?“

„Alle Welt weiß es doch. Seit einem halben Jahr. Ich habe doch selbst Ihre Nachrufe in den Zeitungen gelesen!“

„Es giebt Leute, die sind nicht umzubringen, dazu gehöre auch ich!“

„Aber woher kommen Sie denn?“

„Von Timbuktu her! Dort hatte ich das Abenteuer mit den Schwarzen, aus dem dann wohl das Gerücht von meinem Tod entstanden ist. Aber meine Freunde, die Araber, haben mich gerettet. Mit denen bin ich nordwärts gezogen durch die Sahara. Bis Marrákesch. Von da nach Fez. Und jetzt bin ich ja schon wieder mitten in der Kultur!“

Er warf einen befriedigten Blick auf die Arche Noah ringsumher, die windumpfiffenen Stadtmauern mit ihren rechts und links von den arabischen Runenschnörkeln in die Nacht hinausglotzenden Kanonenschlünden und den vom Mond in gelblichen Zackenrändern bestrahlten Wolkenflug am Himmel.

„Aber wie kommen Sie denn von Fez nach Tetuan?“ sagte Angela, immer noch unsicher und beklommen im Tone. Es schien, als ob sie mehr Schrecken als Freude bei der unerwarteten Begegnung empfand.

„Das hat man mich heute schon einmal gefragt und es ist doch sehr einfach: Ich reite wieder einmal hinter Ihnen her.“

Oben auf den Zinnen erschienen die Turbane und Flintenläufe wieder. Ein betäubender Lärm erhob sich in der ganzen Menagerie und alles drängte den Thorflügeln zu.

Der Schlüssel war glücklich gekommen. Man hörte sein Knarren und Knacken von innen, während sich von außen die geschlossene Phalanx von Mann und Roß, Hammeln, Negern, Kamelen, Kindern, Eseln, Kabylinnen und wilden Hunden hart an die Pforte preßte, kampfbereit, um sich sofort beim Oeffnen mit Gewalt den Eintritt in die Stadt zu erzwingen.

Allein die Thorwächter innen waren auf ihrer Hut. Kaum klaffte der erste Spalt in der Thüre, so gingen sie ihrerseits unvermutet zum Angriff vor und schlugen mit rücksichtslosen Hieben den Vorstoß der Arche Noah zurück. Unter greulichem Geschrei flutete die Masse seitwärts, die Eselchen jammerten, die wilden Hunde kläfften sich heiser, reglos wie Felsen in hoher See ragten die verschwommenen Klumpen der Kamele aus dem Gewühl, durch das die berittenen Araber sich und ihren Reisenden eine Gasse bis zu dem Stadtthor bahnten.

„Halten Sie Bakschisch bereit!“ mahnten dazwischen die Mauren. „Bakschisch für die Thorwachen. Maurisches Geld! Einen halben Dollar!“

Einen halben Dollar? Die bewaffneten Gestalten am Eingang schüttelten schreiend ihre turbanumhüllten Köpfe. Das war zu wenig Bakschisch! Mehr! Mehr! Jeder Reisende einen halben Mohren-Dollar! Gurgelnd und schreiend mit aufgeregtem Gebärdenspiel drängten sie sich heran und hielten ohne weiteres die Zügel der Pferde fest. Das verdroß den einen der beiden Begleiter Angelas, den hünenhaften, langen Menschen, der wild und kampflustig wie ein alter Raubritter vorgebeugt auf seinem viel zu kleinen Berberrosse hing. „Hören Sie mal, Dragoman,“ sagte er gelassen auf englisch mit seiner rauhen Stimme, „ich habe die verwünschte Gewohnheit, unbekannten Kerlen, die um Mitternacht in Afrika meinem Pferd in die Zügel fallen, mit diesem Totschläger hier über den Kopf zu tippen, ob nun ein Turban drauf sitzt oder nicht. Erzählen Sie das mal dem braunen Gentleman da zu meiner Linken!“

Er ließ den mit Blei ausgegossenen Totschläger durch die Luft pfeifen, und noch ehe der Maure seinem Stammesgenossen die Drohung des Prinzen übersetzt hatte, fielen die Zügel nieder und war der Weg frei.

Der Hüne gähnte. „Was krabbeln Sie denn da noch in Ihrer Tasche, Franklin?“ schrie er.

„Ich will dem Volk noch eine Kleinigkeit geben,“ erwiderte sein Genosse, ein kleiner, schmächtiger Mensch, in englisch gefärbtem Deutsch.

„Unsinn! Nichts kriegen die Kerle! Sie glauben wohl, Sie sind noch in Transvaal und spielen mit Ihren Millionen Federball? Nichts! Höchstens eins über den Schädel, wenn sie noch mal mucken. Vorwärts! Aus dem Weg, ihr Schwefelbande!“

Er strich sich seinen mächtigen Schnurrbart und trieb sein Pferd rücksichtslos mitten durch den Haufen der Thorwächter. Der glattrasierte Kleine sagte nur lächelnd „Well!“ und folgte seinem Beispiel. So ritten die beiden nach Tetuan hinein, die andern hinterher, und knarrend schlossen sich hinter ihnen die Thorflügel. Von der Arche Noah war niemand hereingekommen als ein versprengtes Eselchen, das jetzt allein und ratlos mitten auf der Straße dastand und mit seinem jammernden Ya das Grollen der Menge draußen und das Murren der Wächter drinnen verschlang.

Dann verstummte auch das. Ringsum war wieder tiefes Schweigen. Nur die Hufe klapperten, während die Reisenden langsam durch das Dunkel dahinzogen. Sie hätten glauben können, sich in einer Totenstadt zu befinden. Soweit das Auge auch durch die Schatten spähte und das Ohr sich lauschend mühte – nirgends eine Spur, ein Laut, der darauf hinwies, daß im Umkreis dieser zerbröckelt zu ihrer Rechten sich dehnenden Mauern mehr als zwanzigtausend Menschen schliefen. Niedere fensterlose Häuser, gestrüppüberwucherte Trümmerflächen dazwischen, schachtähnlich enge, stockdunkle Gassen, ein unergründlicher Schlamm am Boden – so ging es weiter und weiter durch die unheimliche weißgetünchte Stadt, in der selbst das Gebell der wilden Hunde verstummt zu sein schien. Endlich kamen sie aus dem Gassengewirr heraus. Ein wüster, mit Kot und Pfützen bedeckter Platz breitete sich scheinbar endlos rings im Dunkel um sie aus. Angelas Begleiter hielten da, auf die anderen wartend. Ihr Dragoman schwatzte ihnen etwas von einem „Hotel“ vor.

„Jawohl, ‚Hotel‘!“ brummte der wüste Prinz. „Zwei spanische Herbergen giebt’s in diesem Nest. Den Flohcirkus kann ich mir schon vorstellen!“

„Sind das Ihre neuesten Freunde, Frau Angela?“ frug der Forschungsreisende im Heranreiten.

Sie lachte. „Seit vorigem Jahr! Wir haben uns in Norwegen kennengelernt. Sie fuhren dann als Gäste auf unserer Jacht mit nach Island. Und seitdem werde ich sie nicht los. Es sind zwei unglaubliche Menschen!“

„Wer ist’s denn eigentlich?“

„Der lange Hüne mit dem fuchsroten Schnurrbart, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0654.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2021)