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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Sie kannten also Josephsthal schon seit langer Zeit, und Sie kannten auch mich!“ rief Alix lebhaft. „Ich habe keine Ahnung davon gehabt. Dunkel erinnere ich mich, daß meine Mutter von der Ihrigen gesprochen, daß sie sie sehr lieb gehabt hat. Bitte – nur weiter! Sie glauben es nicht, wie mich dies alles interessiert!“

„Es ist leider bald zu Ende mit den Kindheitserinnerungen! Ich machte also damals die Bekanntschaft der neuen Cousine, aber, wie ich ehrlich eingestehen muß, ohne allzu große Begeisterung. Mit so kleinen Kindern wußte ich nichts anzufangen! Ja, hätte das Geschöpfchen laufen und plaudern können! Aber dies stumme Kleine in all seiner Seiden- und Spitzenpracht machte mir recht wenig Eindruck.“

„Und – meine Mutter?“ fragte das junge Mädchen leise.

„Sie war schöner denn je und schien sich im Besitz ihres Töchterleins außerordentlich glücklich zu fühlen.“

Der Redner stockte hier, als hätte er mehr noch auf dem Herzen, fürchtete aber, zu viel zu sagen. Wieder gab sein bewegliches Gesicht den beredtesten Kommentar zu dem ab, was in seinem Innern vorging.

„Wie wir dann zurückgereist sind, gab es einen sehr schweren und zärtlichen Abschied zwischen den beiden Freundinnen, dessen entsinne ich mich noch genau. Sie weinten beide und wollten einander nicht aus den Armen lassen. Ob eine Ahnung sie bewegte? Sie sollten sich nicht wiedersehen. – – – Meine Mutter ist zuerst gestorben – ein paar Jahre nach jenem Besuch ist es gewesen, und Tante Kathi hat damals sehr traurig und sehr liebevoll an meinen Vater und an mich geschrieben – ich hab’ mir den Brief aufbewahrt; er blieb der einzige, den ich von ihr bekam, denn der Verkehr schlief nach dem Tode meiner Mutter ganz ein. Der Vater hatte zu nichts mehr Lust und fand an nichts mehr Freude …. hätt’ er mich nicht noch zu erziehen gehabt, ich glaube, er wär’ freiwillig der Mutter nachgegangen. Sie ist der Inhalt seines ganzen Lebens gewesen!“

Das ernst gewordene Gesicht, das Alix zugewendet war, wirkte noch anziehender als soeben das lachende.

„Ich danke Ihnen von Herzen für alles, was Sie mir aus jenen Kindertagen, die Sie mit meiner Mutter zusammenführten, erzählt haben!“ sagte Alix warm und reichte Hagedorn die Hand, die er leicht an die Lippen führte. „Sie glauben nicht, wie wertvoll mir, die ich so früh verwaist bin, jede Einzelheit ist, die irgendwie mit Mama in Verbindung steht. Aber nun sind Sie mir doch noch die bewußte Erklärung schuldig, die es mir verständlich machen soll, daß Sie den Gedanken, hier zu bleiben, mit solch offenbarer Abneigung begrüßten!“

„Abneigung? Wirklich? Hab’ ich die verraten?“ fragte Hagedorn bestürzt.

„Es sah wenigstens ganz so aus. Und Sie können es mir nicht verargen, daß ich dafür eine Erklärung wünsche!“

„Eine ganz offene?“

„Ja!“

„Gut denn, ich will es versuchen, sie zu geben. Sehen Baroneß, wenn ich da nun anknüpfe, wo ich zuvor aufhörte, beim Tod meiner Mutter, so ergiebt sich fortan eines aus dem andern. Nachzuholen hätt’ ich nur eine Thatsache, die mich betrifft, freilich eine sehr wichtige! Von klein auf bin ich ein Musiknarr gewesen. Die Wärterin, die mich auf dem Arm getragen hat und die dann noch lange im Haus blieb, hat mir’s später noch oft erzählt, wie ich mitten im Weinen verstummte, sobald ein Drehorgelmann draußen sich hören ließ – wie ich, noch ehe ich ein artikuliertes Wort sprach, kleine Melodien mit meinem Kinderstimmchen richtig und rein zu Gehör brachte – wie ich mich ans Pianoforte hintappte, mühselig den Klaviersessel erklomm und mir nun Töne zusammensuchte, wie ich sie brauchen konnte. Mit sechs Jahren hab’ ich in einer Wohlthätigkeitsvorstellung den ,Karneval von Venedig’ mit Variationen auswendig vorgetragen; die Leute, die Damen namentlich, machten mit mir Knirps viel Aufhebens und meine Eltern hatten gewaltig zu steuern, auf daß nicht aus ihrem Einzigen ein eitler Grasaff’ gemacht wurde. Ich durfte nie wieder öffentlich spielen, und die Leute, die bei uns im Haus verkehrten, wurden veranlaßt, mich nicht durch zu viel Lob und Bewunderung zu verderben. – Aber guten Unterricht erhielt ich, auch dann, als wir, nach dem Tode meiner Mutter, von Wien fortzogen und unser sonderbares Wanderleben begannen. Doch ehe ich Ihnen davon berichte, Baroneß, muß ich notwendigerweise erst etwas von meinem Vater sagen!“

„Er war Docent der alten Sprachen, nicht wahr?“

„Jawohl, er hatte Philologie studiert, war als junger Mensch Informator in einer gräflichen Familie gewesen – Sie erraten, daß es die Holsten-Delmsbrucksche war! – er hatte sich heimlich mit der Komteß verlobt, sah aber nicht die geringste Aussicht auf eine Vereinigung mit seiner Braut vor sich. Da starb sein Vormund, ein sehr wohlhabender, kinderloser Herr, und mein Vater wurde sein Universalerbe. Nun konnte er die Braut heimführen und sein Leben nach eigener Neigung gestalten. So wurde er denn Docent an der Wiener Universität und lebte seiner Wissenschaft, schrieb ab und zu eine gelehrte Abhandlung als Beitrag für irgend eine Zeitschrift, konnte sich aber zu keiner regelmäßigen Thätigkeit aufraffen. Er war ganz Stimmungsmensch; jeder Zwang entmutigte ihn. Unser Vermögen, vielmehr der Zins, den es brachte, reichte aber für uns aus. Meine Mutter war für sich selbst anspruchslos und merkwürdig praktisch. Sie verwaltete das Einkommen ganz allein, und das war gut, denn mein Vater hätte keine Ahnung gehabt, wie es anzulegen sei. Das Kapital sollte für ihren Buben unberührt bleiben! Aber nun starb sie, da ich noch keine vierzehn Jahr alt war. Mein armer Vater, niedergebeugt und gebrochen von seinem Schmerze, war in Bezug auf alle praktischen Fragen des Lebens rat- und hilflos wie ein Kind; er war wie erlöst, als einer der wenigen Freunde, die er in Wien gefunden, ein gutsituierter Kaufmann, ihm anbot, von der Last der Vermögensverwaltung ihn zu befreien und unser Kapital in sein Geschäft hineinzunehmen. Er hatte eine großartige Gußeisen- und Gußstahlgießerei, ein pomphaftes Warenhaus mit den herrlichsten Treppengeländern, Grabgittern, Kandelabern und dergleichen. Ich will und ich kann dem Mann nichts Böses nachsagen, er hat nicht schlecht an uns gehandelt. So lange es ihm selber gut ging, hatten auch wir es gut! Er hatte dem Vater dafür, daß dieser sein Kapital in seinem Geschäft arbeiten ließ, Tantieme zugesichert – die bekamen wir jahrelang, so lange der Handel schwunghaft ging, regelrecht ausgezahlt! Wir hatten reichliche Zinsen in jener Zeit, aber wir verbrauchten sie auch. Meinen Vater litt es nicht lange mehr in Wien, er meinte, in einer fremden Stadt, in einer neuen Umgebung würde er die quälende Sehnsucht nach der Mutter weniger empfinden. Wir gingen nach Graz, dann nach München – dort hab’ ich mein Abiturium gemacht. Ich wollte Musik studieren, das stand bei mir ganz fest, und mein Vater hatte nichts dagegen; nur wollte er, daß ich vorher mit ihm erst ein wenig die Welt ansähe. Da der Arzt für ihn einen längeren Aufenthalt im warmen Klima für wünschenswert erklärte, gingen wir auf ein volles Jahr nach dem Süden. Wie trunken vor Entzücken hab’ ich geschwelgt in allem, was dieser Aufenthalt mir bot, und wenn ich leider gewahren mußte, daß meinem armen Vater auch diese wonnevollen Tage nichts mehr halfen, daß für seine Seele alles zu spät kam und alles verloren war, seitdem er ohne sein Liebstes und Bestes lebte .…. ich verdanke dieser Zeit eine sonnengoldene, unvergleichliche und unvergeßliche Erinnerung, an der ich freilich werde zehren müssen all mein Leben lang.“

„Konnten Sie auch für Ihren künftigen Beruf damals etwas thun?“

„Mein künftiger Beruf – der, den ich in jener Zeit wenigstens dafür hielt! – kam nicht zu kurz. Ich hatte vollauf Muße, oder wenigstens, ich nahm sie mir, alte Kirchenmusik zu studieren – Palestrina – Pergolese, aber ohne Anleitung und Belehrung, ohne Menschen, gegen die ich mich aussprechen, mit denen ich meine Ideen tauschen konnte. Als das Reisejahr vorüber war, trieb es mich mit Allgewalt nach Köln, an dessen Konservatorium namhafte Lehrer unterrichteten, und mein Vater, dem die Stadt nicht sympathisch war, und der eine fast krankhafte Sehnsucht nach dem Grabe meiner Mutter empfand, faßte zum erstenmal den Entschluß, sich, wenigstens für eine Zeit lang, von mir zu trennen. Der Gedanke, ihn allein reisen zu lassen, war mir bei seiner Angegriffenheit bedenklich. Aber mit der zähen, eigensinnigen Heftigkeit, wie sie oft gerade weichen Naturen und Gemütsmenschen eigen ist, bestand er auf seinem Willen, und ich mußte ihn ziehen lassen. Ich hatte mich noch nicht einmal in Köln eingerichtet, wohnte noch im Hotel und wollte erst am

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