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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

sich beschäftigt, um in ihrer Umgebung dem sehr viel Aufmerksamkeit zu schenken, was sich nicht in Thatsachen, sondern in Stimmungen offenbarte, und sie hatte sich seit Jahren so daran gewöhnt, Annie sicher und unbeirrt ihren Weg gehen zu sehen, daß sie gar nicht den Wunsch fühlte, gleich einzugreifen, wo dieser Weg einmal eine unerwartete Biegung zu machen schien.

Und es ging auch äußerlich alles so einfach her, die Tage flossen scheinbar wie ein ruhiger Strom dahin, nur wer näher und schärfer sah, entdeckte unter dieser glatten Oberfläche den unheimlichen Wirbel einer Leidenschaft, die nur darauf lauerte, hervorzubrechen und alles mit sich in die Tiefe zu reißen. Sinaide spann ihre Fäden wie eine schöne Spinne – so ganz fein, so ganz unmerklich und so ohne jedes Erbarmen – sie zog ihn sachte immer mehr an sich. Sie spielte mit ihm Tennis – trotz meines Abratens – er hielt sich während des Spiels mit eiserner Energie aufrecht, brach dann zusammen und lag stundenlang erschöpft und regungslos. Dann ritten sie miteinander aus – kein Tag verging, wo sie ihn nicht stundenlang gesehen hätte – die Zeit für Annie wurde immer kürzer, immer knapper, immer unruhiger.

An dem einen Morgen, wo sich ein solcher Spazierritt ungewöhnlich lang ausdehnte, stand ich vor meinem Hause, um Allan zu erwarten, als Annie plötzlich neben mir war – ich erschrak, ich hatte sie gar nicht kommen hören.

,Ist er noch nicht zurück?‘ frug sie mit gepreßter Stimme.

Ich wies statt der Antwort nach dem Strande, wo die beiden Reiter eben auftauchten.

,Und in der brennenden Sonne!‘ sagte sie leise vor sich hin.

Ich schwieg.

Sie faßte sich plötzlich ein Herz.

,Herr Doktor, – lieber, guter Freund,‘ sagte sie, mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich ihr kaum zugetraut hätte, ,ich kann es nicht mehr mit ansehen! Sprechen Sie einmal mit ihm – sagen Sie ihm, daß er nicht so viel reiten soll! Er mag ja sonst gern mit ihr zusammen sein – ich habe gewiß kein Mißtrauen, nicht wahr, das glauben Sie ganz fest? aber er hält es ja nicht aus!‘

Sie nahm meine Hand einen Augenblick zwischen ihre beiden und drückte sie heftig, dann war sie so rasch fort wie sie gekommen.

Allan und Sinaide waren indes abgestiegen und kamen, ihre Pferde führend, die Düne entlang auf mich zu – ich konnte in der stillen zitternden Mittagsluft jedes Wort verstehen, das sie sprachen – sie achteten auch gar nicht auf mich und sahen mich wohl kaum. Sie hielt einen Strauß brennendroter Mohnblumen in der Hand und sah mit einem Ausdruck darauf hin, als wenn sie den liebsten Menschen vor sich hätte. Allan biß sich auf die Lippen und schlug mit der Reitgerte gegen seine Hand – plötzlich nahm er ihr die Blumen weg und warf sie auf die Erde und trat mit dem Absatz darauf, bis sie wie ein gestaltloser Blutstropfen aus dem weißen Sande leuchteten.

‚Was machen Sie denn da mit meinen Blumen?‘ frug sie und sah mit einem trotzigen Lächeln zu ihm auf.

,Ich hasse Mohn!‘ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

,Der arme Mohn, und warum das?‘ frug sie gleichgültig.

Er antwortete ihr erst gar nicht, sondern sah sie nur drohend und fest an: ,Weil Sie ihn lieben,‘ sagte er dann.

Sie blieb stehen und hielt ihm mit einem leichten Achselzucken die Hand hin. ,Adieu, bis morgen,‘ sagte sie nachlässig, ‚vergessen Sie mich nicht!‘ und dabei lachte sie.

Er behielt ihre Hand einen Augenblick.

,Was sagen Sie?‘ frug er dumpf, ,ich soll Sie nicht vergessen? Wissen Sie mir nichts Besseres zu wünschen? Das beste, das einzigste, was Sie mir wünschen sollten, wäre doch ‚Vergessen Sie mich!‘ Warum sagen Sie denn das nicht?‘

,Das können Sie ja von selbst thun,‘ erwiderte sie und lachte wieder hell auf, ,und nun Adieu – aber heute nachmittag kommen Sie nicht – ich kann Sie gar nicht brauchen – wir erwarten Besuch!‘

,Ich weiß!‘ gab er düster zurück und wandte sich zum Gehen – dann blieb er plötzlich stehen.

,Sehe ich Sie heute gar nicht mehr?‘ frug er, wie hingeworfen.

,Vielleicht doch – ich will mit Großpapa nach dem Thee noch auf die Düne gehen – so gegen acht Uhr – vielleicht kommen Sie mit Ihrer Braut dann auch dahin – das wäre ja sehr hübsch – acht Uhr – hören Sie wohl?‘

Sie nickte ihm zu und verließ ihn – er machte keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten, sondern ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten, ins Haus. Ich folgte ihm auf sein Zimmer, wo er sich mit geschlossenen Augen aufs Sofa geworfen hatte, und stand eine ganze Weile neben ihm.

,Allan!‘ sagte ich endlich.

,Was willst du?‘ fragte er ungeduldig, ohne die Augen zu öffnen, ,ich bin müde!‘

,Das sehe ich, mein Junge,‘ erwiderte ich, ,und darum bitte ich dich, laß jetzt einmal das unsinnige Reiten und Tennisspielen – laß es mal ein paar Tage, und du sollst sehen, wie gut es dir thut! Du warst ja doch die erste Zeit hier so frisch und wohl bei dem ruhigen Leben!‘

Er sah mich mit weitgeöffneten Augen an und richtete sich ein wenig in die Höhe.

‚Leben!‘ sagte er dann, ,ja – wenn du das leben nennst – das war ja gar kein Leben – das war nur ein Hindämmern – ein Scheindasein – gelebt habe ich überhaupt erst seit vierzehn Tagen! Sieh’ mal, Rütgers,‘ fuhr er fort, ,ich bin wie ein Schlafwandler durch die Welt gegangen – immer auf so einfachen, glatten Wegen – und es hat der düsteren Flammenbeleuchtung dieser Tage bedurft, um mir zu zeigen, was für Abgründe rechts und links von uns liegen! Sage mir nur nicht, daß ich ein Schwächling, ein erbärmlicher Mensch ohne Energie sei – du brauchst es mir nicht zu sagen, denn ich weiß es selbst ganz – ganz genau! Alles, was du mir sagen kannst, das sage ich mir auch – die langen schlaflosen Nächte hindurch – und jetzt und immerfort – bloß dann nicht, wenn ich mit ihr zusammen bin – dann ist es aus – dann weiß ich überhaupt nichts mehr – gar nichts! Du kannst dir nicht denken, wie dankbar ich bin, wenn mich einmal nichts an sie erinnert!‘

Ich strich ihm sanft die Haare von der glühenden Stirn und sprach gar nicht – mir war der Hals wie zusammengeschnürt.

In dem Augenblick wurde die Thür aufgestoßen und Sinaidens großer Hund kam herein und auf Allan zu, den er ungestüm ansprang. Mich faßte in dem Augenblick eine unsinnige Wut gegen alles, was mit ihr zusammenhing, und ich gab dem Tiere einen Stoß, daß es mit einem lauten Aufheulen weit weg flog – ich konnte nicht anders.

Allan sah mich sonderbar an.

‚Laß doch das Tier,‘ sagte er, ,das arme Tier – das ist ja viel besser als ich, das ist doch wenigstens treu!‘

Ich stand eine ganze Weile stumm am Fenster.

Ich war so ratlos ihm gegenüber – ich kam mir vor wie einer, dem die Hochflut entgegenkommt und der sie mit seinen beiden Händen zurückhalten soll.

Als ich mich nach ihm umwandte, war er eingeschlafen; aber der Schlaf hatte den unruhigen Zug nicht aus seinem Gesicht fortzuwischen vermocht – er warf sich hin und her und atmete kurz – mir fiel wieder auf, wie krank er jetzt aussah.

An diesem Tage kam, wie Sinaide ja schon gesagt hatte, ein auswärtiger Gast zum General, ein junger, eleganter Mann mit blondem Scheitel und sehr hübschem, nichtssagendem Gesicht – er blieb bis gegen Abend da. Sinaide war ohne Aufhören mit ihm zusammen, immer da, wo man sie von den Dünenhäusern aus beobachten konnte – sie spielte mit ihm Tennis, und nachmittags ließ sie sich ihren Strandstuhl hinunterbringen, was sie sonst nie that, und saß stundenlang mit dem Fremden am Meer. Er lag auf einer Decke zu ihren Füßen, und sie schien sich vortrefflich mit ihm zu unterhalten, so daß sie für nichts und niemand anders Augen hatte.

Allan bestand darauf, auch an den Strand zu gehen – Annie und ich begleiteten ihn, ich hatte gerade freie Zeit.

Als wir an den beiden vorbeikamen, grüßten wir. Sinaide nickte, wie zerstreut, flüchtig nach uns hin und wandte dann gleich wieder den Kopf nach dem Fremden, der ihr allerlei Schnurren zu erzählen schien, über die sie ausgelassen lachte.

Allan zog Annie so rasch mit sich, daß sie ihm kaum zu folgen vermochte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0539.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2022)