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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Dir bin, daß ich mich, in Freude wie in Leid, getreulich zu Dir rechne, daß nichts auf der weiten Welt geschehen kann, was meine Liebe und Freundschaft zu Dir zu erschüttern imstande wäre …. ebenso, wie ich mich dessen jederzeit von Dir versichert halte! – Ach, mein armer Liebling, schwere Zeiten sind über Dich hereingebrochen, noch schwerere vielleicht stehen Dir bevor! Hab’ ich Dich stark genug gemacht, alles zu ertragen, was Dir auferlegt ist, hab’ ich das? Unaufhörlich klingt mir diese bange Frage im Herzen wieder! Es war keine Kleinigkeit für mich, ein ‚Kind des Glücks‘, wie die Menschen Dich so gern nannten, zu erziehen, Dich das heitere, schöne, sorglose Dasein, welches das Schicksal Dir bereitet, genießen zu lassen und Dir doch wieder und wieder, beständig fast, zu wiederholen: ‚Es ist keiner im Leben immer ein Kind des Glücks! Schau’ um Dich und schau’ in Dich! Glänzende äußere Gaben befähigen zu vielem, erleichtern manches, sie können aber die Schicksalsschläge nicht abwenden, die niemand erspart bleiben!‘

Und nun ist das Schicksal gekommen und hat Dich so früh, so unerwartet früh vor eine große, schwere, verantwortliche Aufgabe gestellt! –

Was soll ich es Dir verhehlen, meine Alix, ich habe oft mit Angst und Zittern an diese Deine Zukunftsaufgabe gedacht. Denn Herr sein über so viele – das ist schon für einen intelligenten Mann, der von Jugend auf dazu geschult ist, ein schweres Amt! Nun aber ein junges, verwöhntes Mädchen gar, das nicht den Schatten einer Vorbereitung zu solchem Amt gekannt hat! – – –

Wenn mich diese Furcht nun überkam, so war es mir ein Trost, Deines Vaters kräftige, lebensvolle Gestalt, seine eisenfeste Gesundheit, sein in sich geschlossenes Wesen, seine regelmäßige Lebensweise und stete Arbeitsfreudigkeit mir in Erinnerung zu bringen. ‚Er wird noch lange, lange leben! Er wird sehr alt werden – meiner Alix wird es viele Jahre hindurch erspart sein, diese ungeheure Verantwortung auf sich zu nehmen; sie wird Zeit haben, innerlich auszureifen, und wenn das Schwere an sie herantritt, so wird es sie einigermaßen gerüstet finden!‘

Und jetzt ist mein armes, süßes Kind eben einundzwanzig Jahre alt geworden!!

Mich haben einige Bekannte, die ich auf der Straße traf und die den Mut besaßen, sich an mich heranzuwagen – den Sinn dieser Worte erkläre ich Dir später – schon gefragt, ob Du nicht sehr bald hierher zurückkehren und demnächst auf längere Zeit verreisen würdest? Nicht wahr, Kind, ich that recht daran, ihnen zu sagen, daß Du daheim bleiben und versuchen wolltest, Dich in Deine neuen Pflichten einzuleben? Du gehörst jetzt nach Josephsthal und nirgend anderswo hin! Deine Pflichten halten Dich dort fest. Und noch einen zweiten stichhaltigen Grund, außer diesen neuen Pflichten, giebt es, weshalb meine Alix um keinen Preis fahnenflüchtig werden darf! Sie haben Dir Deinen Vater heimtückisch gemordet, Du armes Herz; seinem Wirken und Schaffen ist ein vorzeitiges Ziel gesteckt worden. Deine Pflicht als Tochter gebietet es Dir, am Ort der That zu bleiben, jeden Schritt, den man zur Entdeckung des Thäters unternimmt, zu verfolgen, bis, hoffentlich bald, Licht in dieses traurige Dunkel gebracht wird. Schwer und lastend genug liegt auch diese zweite Aufgabe auf Dir – aber ich habe immer gefunden, daß mein Liebling ein starkes Herz hat und eine elastische, gesunde Natur .…. beides im Bunde miteinander wird Dir auch jetzt helfen, da der bittere Ernst des Lebens so gebieterisch an Dich herantritt. – Für Deine kurzen, aber so sachgemäßen und häufigen Nachrichten sage ich Dir tausend Dank. Es war sehr liebevoll und zart von Dir, mir in dieser für Dich so schweren Zeit täglich zu schreiben, aber Du weißt es ja, mußt es ja fühlen, wie mein Herz jede Stunde um Dich bangt und sorgt!

Ach, daß ich nicht bei Dir sein kann, nicht zu Dir eilen darf!

Du fragst nach den Kindern – mitten in Deinem eigenen Kummer und Deiner Aufregung hast Du an unsere Kleinen gedacht und uns dadurch unbeschreiblich wohlgethan. Ich muß nun wohl von uns erzählen; Liebste, leider kann ich nichts Gutes berichten! – – Am Tage Deiner Abreise steigerte sich bei unserem Werner das Fieber aufs neue bis zu bedenklicher Höhe, der Arzt konstatierte einen Rückfall, und während ich in Angst und Schrecken um das Kind bemüht bin, bekomme ich die Nachricht, daß meine kleine Else im Pensionat unter beängstigenden Symptomen erkrankt ist, und daß man auch bei ihr Diphtheritis fürchte.

Ich habe mich sofort in einen Wagen gesetzt und mir das Kind, in Kissen gepackt, hergeholt – wie sollte ich den Damen dort so viel Sorge und Unbequemlichkeit aufbürden – und dann – wer könnte ein Kind besser pflegen als seine eigene Mutter? – –

Das kleine Leben war zwei Tage hindurch sehr in Gefahr, meine Alix, so sehr, daß wir versuchten, uns aufs schlimmste gefaßt zu machen. Ach, versuchten! Wäre es gekommen – ich weiß nicht, wie wir’s hätten tragen sollen!

Fürs erste ist die unmittelbare Lebensgefahr vorüber, aber beide Kinder sind unsagbar schwach und mitgenommen, namentlich Else, die sich in den wenigen Tagen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.

Ich schreibe diesen langen Brief mitten in der Nacht; mein Tisch steht zwischen den beiden Kinderbetten. Hebe ich die Augen, so kann ich die kleinen Schläfer sehen. Werner ist recht mager und blaß, sein liebes Gesicht aber doch zu erkennen. Mein Elschen – immer noch kommen mir die Thränen, wenn ich das Kind ansehe! Werde ich es wirklich behalten dürfen?

Die Fenster stehen offen, es soll beständig frische Luft im Zimmer sein; ich sitze im dicken Mantel, ein warmes Tuch um Hals und Kopf genommen, aber die Hände sind mir doch steif und kalt! – – Dies die traurigen Gründe, die mich jetzt von Dir fernhalten!

Ich habe mich nun gemüht, soweit mir dies ohne persönliches Eingreifen möglich war – denn die Menschen scheuen doch mit Recht die Ansteckung so sehr! – eine Art von Ersatz für meine Person ausfindig zu machen, denn allein kannst Du nicht bleiben, Du brauchst notwendig eine Gesellschafterin, Françoise genügt dafür in keinem Fall. Da hat mir nun meine Kollegin, die Professorin Behr, die sich richtig zu mir wagte – wie Du weißt, hat sie keine Kinder, und Furcht vor Ansteckung kennt sie nicht – eine einstige Jugendfreundin, die in Berlin lebt und immer noch mit ihr im Briefwechsel steht, warm empfohlen.

Es ist die Wittwe eines Majors von Sperber, kinderlos, überhaupt ohne jeden Anhang, eine rüstige ältere Dame, liebenswürdig, gescheit, mit guten, feinen Manieren. Sie hat zu leben, wie man so sagt, hat aber des öfteren geäußert, wie wenig dies thatenlose Dasein sie befriedige, wie sie sich nach irgend welcher Thätigkeit sehne und am liebsten bei einer verwaisten jungen Dame Mutterstelle vertreten und die Repräsentationspflichten übernehmen möchte. Frau Professor Behr sandte mir ein paar Briefe ihrer Freundin, und sie gefielen mir gut. Meine Kollegin selbst kennst Du ja als eine kluge und sympathische Frau, deren Urteil man wohl trauen darf. – – Was also meinst Du? Soll ich der Majorin v. Sperber in Deinem Namen schreiben? Oder willst Du dies selbst thun? Ihre Adresse füge ich bei. Es ist ein Griff in die Glückslotterie, diese Wahl einer Gesellschaftsdame für Dich, aber selbst bei Menschen, die man zu kennen glaubt, stellen sich im steten Zusammenleben oft genug unliebsame Überraschungen ein! – – Daß Du in dieser wichtigen Angelegenheit einen raschen Entschluß fassen mußt, liegt auf der Hand. –

Mein Mann läßt grüßen und denkt, gleich mir, in Liebe und Sorge an seine Pflegetochter. Werner hat schon nach Dir gefragt und schickt gleichfalls seinen Gruß. Meine kleine Else liegt noch ganz abgespannt und teilnahmlos da.

Gott mit Dir, mein Kind, mein Liebling, meine beste treueste Freundin! Schreib’ mir, sobald Du irgend kannst, und übersteh’ tapfer den heutigen schweren Tag und die ebenso schweren Zeiten, die ihm folgen werden!

Immer die Deine und immer bei Dir!  

Maria.“ 

(Fortsetzung folgt.)




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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0527.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2022)