Seite:Die Gartenlaube (1898) 0491.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Hospital, die Direktorialwohnungen …. alles das gab es damals noch nicht?“

„Nein!“

„Sie werden lange Zeit brauchen, liebe Alix, um dies reichhaltige Material nur einigermaßen zu bewältigen ….. vorausgesetzt natürlich, daß Sie sich dafür interessieren!“

„Das ist der Fall – in hohem Maße sogar!“

„Josephsthal repräsentiert in hiesiger Gegend geradezu eine Sehenswürdigkeit. Von weither kommen die Fremden zugereist, um es kennen zu lernen. Ich bin technisch leider nicht vorgebildet genug, um einen lehrreichen Führer durch die zahlreichen Etablissements abzugeben; aber wenn Sie eingehendere Erklärungen wünschen, so könnte ich Ihnen dazu den Oberingenieur Harnack empfehlen, er ist seit Jahren Ihres Herrn Vaters rechte Hand gewesen – – eine ganz ungewöhnliche Kapazität in seinem Fach!“

„Sie schrieben mir von ihm.“

Alix wunderte sich im stillen, wie förmlich der Justizrat von ihrem Papa sprach. Er vergaß es nie, „Ihr Herr Vater“ zu sagen, und das klang ihr befremdlich, da er doch sein Freund war. Er mußte großen Wert auf Wahrung der Form legen. Sie wünschte sehr, mit ihm in näheren Verkehr zu treten – er war wohl der einzige Mensch, der ihrem Vater wirklich nahe gestanden hatte, und sie konnte durch ihn mancherlei erfahren, was ihr wissenswert erschien! - - Alle diese Gedanken zogen ihr aber nur im Flug durch den Sinn, eine unbeschreibliche Angst vor dem, was sie finden sollte, schnürte ihr das Herz zusammen und ließ sie bang und mühsam atmen. Die Fahrt ging rasch, die Pferde rissen den leichten offenen Schlitten wie im Fluge mit sich, und doch war es dem jungen Mädchen, wie wenn sie kaum von der Stelle kämen.

An den Fluß kamen sie heute nicht. Sie streiften nur sein rechtes Ufer flüchtig, es blinkten zahllose Lichter auf, aus einem sehr großen, weitläufigen Gebäude klang heftiges Schnauben, Stampfen und Keuchen zu ihnen herüber, dann bog der Schlitten links herum, und das Bild war vorüber.

Nun fuhren sie durch die große Allee – die kannte Alix genau, durch die war sie als Kind unzähligemal gelaufen, ihrer Mama entgegen, wenn diese in ihrem hübschen offenen Wagen auf Besuch in die Nachbarschaft gefahren war und ihr Töchterchen nicht mitgenommen hatte.

Die kahlen, schneeüberschütteten Aeste der Bäume hingen jetzt tief hernieder und streuten weißstäubende Flocken auf die Vorüberfahrenden. Statt der lustigen Finken und Rotkehlchen, die in jenen schönen Sommerzeiten die lustigen, grünen Laubgewölbe belebt hatten, flogen jetzt ein paar Krähen mit mißtönendem Krächzen empor. Wie hatte sich alles geändert! Die zärtliche Mutter, die damals ihr Kind voll überströmender Liebe ans Herz gedrückt, schlief lange – wie lange schon! – den letzten Schlaf, und der Vater jenes Kindes stand dicht am Rande des Grabes!

Die Allee war zu Ende. Sie mündete auf einen großen kreisförmigen Platz, der in guter Jahreszeit wohl mit Rasen und Blumenstücken geziert sein mochte; in der Mitte eines weiten Bassins stand eine mit Matten umwickelte Figur. Zur Linken dieses Platzes führte eine breite Auffahrt zur stolzgeschwungenen Schloßrampe. Das Schloß selbst war im gefälligsten Renaissancestil erbaut und zeigte über einer prachtvollen Freitreppe ein kunstvolles mächtiges Portal. Die ganze erste Etage war in bläulich mildes elektrisches Licht getaucht, die oberen Stockwerke, sowie die Türme und Erker lagen im Dunklen. - - - Alix warf nur einen flüchtigen Blick auf den imposanten Bau; sie war aus dem Schlitten, bevor die beiden mit Windlichtern herbeistürzenden Diener imstande waren, ihr zu helfen.

„Baroneß Hofmann!“ sagte der Justizrat zu den beiden sich tief verneigenden Lakaien. Einen Augenblick stand Alix wie betäubt inmitten der großartigen Halle, die verschwenderisch mit Deckengemälden, Gobelins, Waffentrophäen und Statuen geschmückt war. Eine bronzene Kolossalstatue, „die Industrie“, die in der hocherhobenen Linken eine große Fackel schwang, der elektrisches Licht entströmte, beherrschte gleichsam die ganze Halle. Sie stand auf mächtigem Sockel im Hintergrunde, wo die breite Doppeltreppe, die in die oberen Stockwerke hinaufführte, ihren Ausgang nahm. In der Nähe der Thür hob sich ein in reinstem Marmor leuchtender lebensgroßer Hermes mit Stab und Flügelhut von einem kostbaren, dunkelgetönten Gobelin ab.

Françoise war zur Stelle und half ihrer jungen Herrin aus den warmen Hüllen heraus, schweigend fürs erste, denn die neuen Eindrücke sowie die Erwartung alles dessen, was zunächst bevorstand, banden einstweilen ihre geläufige Zunge. Sie ging wie immer rasch und geschickt zu Werk; aber dem jungen Mädchen geschah heute alles zu langsam, es legte selbst mit Hand an, doch so erregt und zitternd, daß dadurch die Sache eher verzögert wurde.

„Würden Sie nicht zunächst nach der kalten Fahrt eine kleine Erfrischung nehmen, liebe Alix?“ begann der Justizrat.

Mit einer ungeduldigen Geste schnitt sie ihm das Wort ab.

„Ich möchte zu meinem Vater – jetzt gleich!“

„Wie Sie wünschen. Verzeihen Sie, daß ich vorangehe – es ist, um Ihnen den Weg zu zeigen!“

Einer der Diener schlüpfte voraus, öffnete hier eine Thür, schlug dort eine Portiere zurück, alles rasch und geräuschlos. Ueberweg richtete eine leise Frage an den Mann.

„Herr Doktor Petri ist soeben gekommen!“ erwiderte dieser.

„Das ist der Josephsthaler Arzt, liebe Alix, ein sehr tüchtiger Mann. Wollen Sie hier rechts eintreten; Ihr Herr Vater liegt in seinem Arbeitszimmer.“

Das junge Mädchen schob den Thürvorhang beiseite und ging auf dem dicken Smyrnateppich, der den ganzen Fußboden überdeckte, lautlos vorwärts. Die fünfarmige Lampe, die vom Plafond niederhing, gab ein helles Licht. An der längsten Wand des sehr großen und hohen Zimmers stand das breite, niedrige Bett. Am Kopf- wie am Fußende desselben saß je eine schwarzgekleidete barmherzige Schwester mit weißer Stirnbinde und steifer schwarzer Flügelhaube. An einem Tisch seitwärts stand ein hagerer, mittelgroßer Herr, der Alix den Rücken wandte. Er streifte eben seine Handschuhe ab und fragte eine der Wärterinnen in halbgedämpftem Ton: „Es ist keine Veränderung eingetreten?“

„Nein – keine!“ lautete die Antwort.

Hier machte ihm die zu Füßen des Bettes sitzende Schwester ein Zeichen, und, sich umwendend, gewahrte er eine junge Dame, die an ihm vorüberschritt.

„Fräulein von Hofmann, nicht wahr?“ sagte er ruhig. „Doktor Petri!“

Sie neigte ihr Haupt und blieb wie festgewurzelt stehen.

„Sie können näher herangehen, ganz nahe,“ sagte der Arzt. „Er hat keine Ahnung von Ihrer Gegenwart!“

- - - - - Nein, die konnte er nicht haben. Das bleifarbige Gesicht dort in den Kissen, mit dem breiten weißen Leinenstreifen um Stirn und Schläfen, mit den eingesunkenen bläulichen Augenlidern, trug so ganz das Gepräge des Todes, daß Alix mit einem halbunterdrückten Schreckensruf sich vorbeugte – sie meinte, sie käme zu spät und alles sei vorüber. Aber wie sie ihr junges, lebensvolles Gesicht dem schrecklich entstellten Antlitz näherte, da sah sie, daß die Brust unter dem schneeigen Leinen sich stetig hob und senkte, und zwischen den dünnen, fest aufeinandergepreßten Lippen hervor kam ein scharfer, regelmäßig wiederkehrender Laut, wie von knirschenden Zähnen. Zwei wie aus gelblichem Wachs gebildete Hände lagen regungslos auf der mit roter Seide überzogenen Decke.

Und das sollte ihr Vater sein, derselbe kaum zweiundfünfzigjährige Mann, den sie vor sechs Monaten in London gesehen hatte, stattlich und elegant, elastisch und kerngesund, ihr Vater, den sie nie eine Stunde krank gewußt, der keine Erschöpfung und keine Uebermüdung kannte – und jetzt – und jetzt!

„Ich – ich möchte mit Ihnen sprechen, Herr Doktor!“ stammelte Alix.

Ueberweg winkte den beiden Pflegerinnen und verließ mit ihnen das Zimmer.

„Sie können ungescheut und laut zu mir reden, Fräulein von Hofmann!“ sagte Doktor Petri. „Der Kranke hört uns nicht. Aber bitte, setzen Sie sich zuvor!“

Er rollte ihr, die am ganzen Körper zu zittern anfing und doch die Augen keine Sekunde von ihrem Vater zu wenden vermochte, einen Sessel heran, umfaßte sie sanft und drückte sie leicht in die weichen Polster. Sie neigte das Haupt und biß die Zähne fest in die zuckende Unterlippe, sie hätte laut aufschreien mögen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0491.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)