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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Halbheft 16.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Schloß Josephsthal.

Roman von Marie Bernhard.
(1. Fortsetzung.)
3.

Den Kopf gegen die Polster gelehnt, die Augen halb geschlossen, saß Alix während der Fahrt, ohne den endlosen Redeschwall der Französin zu beachten oder auf ihre vielen Fragen nach den nichtigsten Dingen zu antworten. Ihre Gedanken tauchten tief in den Strom ihrer Erinnerungen, sie rief sich Wach, was alles sie erlebt hatte, solange sie denken konnte.

Sich selber sah sie im Geist, ein kleines, zierliches Püppchen mit fliegenden rötlichen Locken, immer in weiße, gestickte Kleidchen gehüllt, und immer mit Mama. Deutlich stand im Vordergrund all der Erinnerungen, die gleich einem Wandelpanorama an ihrem inneren Gesicht vorüberzogen, das Bild der leidenschaftlich geliebten Mutter. Mit neun Jahren hatte sie dieselbe verloren, ein zartes Kind. Jetzt, mit einundzwanzig Jahren, sollte dem erwachsenen jungen Mädchen der Vater sterben! Im Leben des Vaters – dies ging ihr mit einschneidender Gewißheit durch die Seele – hatte sie keine Rolle gespielt; er hatte sich wenig um sie bekümmert. Als kleines Mädchen hatte sie ihn fast nur bei Tisch gesehen, auch da nicht häufig, denn er war viel auf Reisen gewesen oder er hatte Geschäftsfreunde eingeladen, die mit ihm später dinierten; Alix mußte dann von Françoise zu früherer Stunde abgespeist werden. Der erste Buchhalter und der Oberingenieur, zwei unverheiratete Herren, die damals noch im Hause Herrn Hofmanns wohnten und oft bei Tisch erschienen, waren der kleinen Alix vertrauter als der eigene Vater. Die Herren gaben sich gern gelegentlich mit dem aufgeweckten Kinde ab; namentlich der Buchhalter, der sehr hübsch zu schnitzen und zu kleben verstand, verfertigte der Kleinen in seinen Mußestunden allerlei niedliches Gerät für ihre Puppenstube, und der Oberingenieur nahm sie oft zu sich aufs Pferd und ritt ein Stückchen mit ihr spazieren. Vor Papa empfand sie immer eine gewisse Scheu; sie konnte sich keiner Zeit ihres Lebens entsinnen, in der sie sich ihm hätte zärtlich nähern dürfen. Sie mußte auch bezweifeln, daß ihre Mutter an seiner Seite glücklich gewesen sei. Sie hatte nie gesehen, daß ihre Eltern sich umarmten; hin und wieder hatte ihr Vater seiner Gattin formell die Hand geküßt, das war alles gewesen, und Mama schien das ganz in Ordnung zu finden.

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Die Blumenfreundin.
Nach dem Gemälde von Louis Uhl.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0485.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2021)