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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Der weithintönende Schlag der Schloßuhr verkündete die sechste Stunde, als er den Park erreichte. Die Vögel zwitscherten; unscheinbares Völkchen, bettelhaft angethan im Vergleich mit ihren Geschwistern auf der andern Hemisphäre, aber was ersetzt den Wohllaut, der den Kehlchen dieser kleinen Sänger entströmt? – Die Sonne war untergegangen, ein lauer Dunst entstieg dem Boden, das junge Grün an Bäumen und Sträuchern prangte in Kraft und Saft, das Riedgras blühte und die Veilchenbeete dufteten.

Bornholm schritt langsam dem Schlosse zu. Vor der Einfahrt lungerten einige Diener, die seine Frage, ob Herr von Kosel zu Hause sei, bejahend beantworteten, indes keine Anstalt trafen, ihn anzumelden.

Er ging hinauf (ihm das zu wehren, wagten sie nicht), fand im Vorgemach Balthasar so fest eingeschlafen, daß es ihm leid that, ihn zu wecken, und er an ihm vorüber bei Kosel eintrat. Wie gewöhnlich war die Portiere zwischen den zwei Zimmern zurückgeschlagen, er sah Elika am Schreibtisch ihres Vaters sitzen, vor einem großen liniierten und rubrizierten Bogen. Sie hatte die Thür gehen gehört und den Kopf gewendet. Der Besuch Bornholms schien sie nicht zu überraschen, mit wenigen, ruhigen Worten sagte sie, der Papa werde gleich kommen, er sei in der Bibliothek mit dem Buchbinder, der einige Bände Zeitungen gebracht habe.

„Ich habe die Namen und Nummern hier einzutragen in den Katalog. Aber wollen Sie sich nicht setzen?“

Levin hatte eine Regung des Mitleids. Armes Ding, das einen Zeitungskatalog führen muß. Armes fünfzehnjähriges Ding …

Sie hatten vor dem runden Tisch auf den grünen Fauteuils mit den Metallknöpfen, die Tante Charlotte so albern fand, Platz genommen. „Ich komme, um Abschied zu nehmen,“ sagte Bornholm. „Ich habe mich entschlossen, meine Sammlungen doch selbst zu überbringen. Es ist besser und,“ fügte er mit forciertem Humor hinzu, „mit weniger Mühsal verbunden, als der Transport dieser Sachen auf Buschwegen gewesen ist.“

Elika hatte alle Mühe gehabt, ihre Bestürzung zu verbergen, es war ihr aber so ziemlich gelungen. „Und wann werden Sie abreisen, Herr Bornholm?“ fragte sie.

„Morgen, ganz früh. Ich habe Nachrichten erhalten, die mich zwingen, meine Reise so bald als möglich anzutreten.“

Ich weiß, dachte Elika, was für Nachrichten das sind. Ich weiß, was dich forttreibt. Ihr heißes, grenzenloses Erbarmen mit ihm erfaßte sie wieder. Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen: die täuschest du nicht über den Grund deiner Flucht, die kennt ihn.

„Ich bitte Sie,“ sprach er hastig, „mich bei Ihrer Tante Luise zu entschuldigen. Ich finde nicht mehr Zeit zu einem Gang nach Vrobek, es ist unmöglich … Unmöglich,“ wiederholte er einen Augenblick völlig abwesend. „Haben Sie die Güte, ihr meine Empfehlungen zu bestellen und meine Verehrung, meinen Dank.“

Herr von Kosel erschien und war sehr unangenehm berührt, Levin da und allein mit Elika zu finden. Ein „Schön, das ist ja schön,“ als er den Zweck von Bornholms Besuch erfuhr, verriet seine innersten Gefühle. „Nach Norwegen. Ja, nach Norwegen also. Und dann? ja wohin dann?“

Die Antwort blieb aus.

„Das arme Valahora,“ sprach Elika, „und der arme Hansl. Wollen Sie ihn während Ihrer Abwesenheit nicht uns …?“

„Er ist versorgt,“ unterbrach sie Bornholm. „Er hat einen vortrefflichen Hüter, den Bruder Ihres Hanusch.“

Noch ein paar gleichgültige Reden, in die Kosel einige Sympathiekundgebungen für Norwegen einflocht. Insbesondere für den Glommen-Elf, in den er mit allen seinen Gedanken versank.

„Sie gehen nach Norwegen und dann nach Ihrem Neusüdwales. Sie wollen Luise nicht leiden machen,“ sagte Elika leise und hatte einen Ausdruck von rührender Hingebung. Es brannte ihr förmlich auf den Lippen: Wie gern würde ich für dich leiden, dich erheben, erlösen, durch mein Leiden für dich!

Aber dieses Glück war ihr nicht gegönnt, unerlöst zog er wieder fort nach dem fremden Weltteil, so arm an Glück wie er gekommen war, ohne Freude an der Gegenwart, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Sie hätte alles für ihn thun mögen und durfte doch nicht einmal zeigen, wie er ihr leid, nicht zu viel von ihm sprechen, sie mußte ihren ganzen großen Schmerz wie etwas Unrechtes, Unwürdiges verbergen. Diese Nacht hindurch schloß sie kein Auge; eine Seele wenigstens sollte mit ihm wachen. Er hatte keine Zeit zur Ruhe vor dieser überstürzten Abreise, zu der die Bosheit der Menschen ihn zwang … Und vielleicht nicht die allein, es gab vielleicht noch einen andern Grund … Armer Bornholm! Armer Bornholm! Elika schluchzte plötzlich auf. Nein, nicht „vielleicht“ – sicher und gewiß! Er war gegangen, weil er Luise liebte und ihr doch nicht sagen durfte: Verlassen Sie Ihre Heimat und alle, die Ihnen teuer sind, und kommen Sie mit mir! Wem hätte sie diese schweren Opfer bringen sollen? Einem launenhaften, verdüsterten Menschen, der sie ihr nicht zu danken, ihr das Leben nicht leicht zu machen vermöchte. – Nein, nein, er durfte so nicht sprechen, zu Luise nicht! … Freilich, wenn er zu ihr – Elika so gesprochen hätte, das wäre etwas andres gewesen, und wie ihre Antwort gelautet hätte, wußte sie wohl … Aber sie war ja für ihn nur ein dummes, kleines Mädchen …

Am nächsten Tage kam Bartolomäus äußerst vergnügt mit Hansl und seinem Wärter nach Vrobek. Der Herr Bornholm war abgereist und schickte da das Pferd. Das Fräuln möge den Hansl beliebig verwenden, als Reit-, Wagen- oder Arbeitspferd, er wäre ganz fromm. Für alles, was er brauchte, habe sein Wärter zu sorgen, das sei alles aufs beste eingerichtet. Das Fräuln wolle nur gütigst den beiden einen Unterstand geben im Meierhof.

Leopold fand, daß die Uebersendung Hansls eine Kühnheit sei. „Ich habe aber kühne Menschen gern, und du auch, Tante Luise,“ sagte er zu ihr und lachte. Seine Zähne blinkten so weiß und hell, daß es eine Freude war, und seine lieben Augen blickten die Tante, um Verzeihung bittend, an.

„Und ich auch,“ sprach Luise ruhig und tapfer.

Das begab sich im Stall der Meierei, in dem Schekinka II und Hansl friedlich nebeneinander standen, bis an die Bäuche in Stroh, und die Huldigungen sämtlicher Mitglieder der Familie Kosel empfingen.

Elika sah abwechselnd von Hansl zu Luise hin. Die Tante erschien ihr anders als sonst, verjüngt, verschönt. Sie wurde geliebt von Joseph und von Bornholm. Geliebt werden, was ist das für eine große Sache – die größte auf Erden.

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Wieder war es Herbst geworden. Ueberlang ließ eine Nachricht von Joseph auf sich warten. Alle waren besorgt, keiner wollte es zeigen, keiner die Besorgnisse der anderen wecken. Endlich, knapp vor Leopolds nun unwiderruflicher Abfahrt nach Wien, kam die bündige Kunde: „Wir sind alle gesund, Reise erfolgreich, ausführliche Nachricht folgt bald. Ausführlichste übers Jahr, die bringe ich Euch selbst.   Euer Joseph.“

Als Leopold vor der Abreise seine Abschiedsbesuche machte bei den Würdenträgern und bei den Hausgenossen, begleitete sein Vater ihn überall hin. Er wünschte offenbar etwas von ihm, sprach es aber nicht aus. Erst als Leopold sich aus den Armen Apollonias gerissen hatte, die ihn zwar nicht losließ, aber fortwährend rief: „Geh, mein Goldkind, geh, ich komme ja noch zum Wagen!“ sagte Kosel:

„So also, so, und jetzt zu deiner Mutter!“

„Da war ich schon, Papa, da war ich zuerst.“

„Ja, zuerst? … das ist also ganz recht,“ und er klopfte ihm auf die Schulter, was nur in den seltensten Fällen geschah.

Der Phaethon fuhr vor, der Hof füllte sich mit Getreuen, die Leopold noch einen Gruß zurufen wollten. Nun fiel es Herrn von Kosel ein, daß er ja seinen Sohn auf die Station begleiten könne:

„Ja, komm, komm!“ rief Leopold. „Lebt wohl, alle, alle! Auf Wiedersehen!“ Sein letzter Blick, sein letzter Wink galt der armen Kleinen, die regungslos dastand und wartete, bis der Wagen hinter den Gebüschen des Parks verschwand. Dann rannte sie hinauf und ans Fenster ihres Zimmers, und sah ihm nach, so lange er auf der Straße noch zu erblicken war.

Auf Wiedersehen, ja – so Gott will! Das war keine Trennung wie die von Joseph, aber ein Abschnitt im Leben, ein Scheiden aus dem Vaterhause war’s. Zu Besuch wird er kommen, aber daheim sein bei ihnen nicht mehr!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0476.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)