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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Josepha ihr bereiten werden, wenn sie ohne Edith kommt. Mitten in der Lindenallee holt eine große Gestalt sie ein, Mohrmann, der von einem Birschgange über die Felder zurückkehrt, in hohen Stiefeln, Flauschrock und Spessartmütze, die Flinte über der Schulter.

„Tante Tonette?“ fragt er, sie groß anstarrend.

Sie kann kaum sprechen, nur mühsam unter aufquellenden Thränen sagt sie: „Schelten Sie mich – ich komme allein.“

Er lächelt ein wenig, aber ein Lächeln, das sie um alle Fassung bringt, so hohnvoll überzuckt es das ernste Gesicht. Sie bleibt stehen und faßt den Mann am Aermel seines Jagdrockes, sie will sprechen, aber die Thränen stürzen ihr stromweis aus den Augen, und sie schreit es fast hinaus:

„Sie wollte nicht mit mir kommen, sie wollte nicht!“

Er antwortet nicht, er bückt sich nur und hebt ihren Pompadour vom Boden auf und geht ruhig weiter.

Sie folgt ihm, das Schluchzen gewaltsam unterdrückend. Er schreitet neben ihr, die große Gestalt ein wenig gebeugt, so stumpf, so gleichgültig, als habe ihr Erscheinen durchaus nichts Unerwartetes für ihn, als sei es völlig selbstverständlich, daß Edith nicht mitkommt.

Im Flur des Schlosses verläßt sie ihn und steigt hastig die Treppen empor, und droben in der Kinderstube erschreckt sie die alte Klauß und wirft sich fassungslos neben Lothar, der am Boden spielt, auf die Kniee und weint an seinem Lockenköpfchen so heftig, daß das Kind in ein jämmerliches Geschrei ausbricht und Josepha herübereilt, die ihren Augen nicht traut, als sie die Schwester in der großen zitternden Frauengestalt erkennt.

„Tonette!“ ruft die Stiftsdame und rüttelt sie an der Schulter, „um Gottes willen – wo kommst du her?“

Da steht sie auf, und die Arme sinken lassend, sagt sie mit zitternden Lippen: „Sie wollte mich nicht mehr – sie ist allein – weiter gereist.“


Der Winter schleicht vorüber, furchtbar öde und still. Der Weihnachtsbaum, den die beiden alten Schwestern für die Kinder schmücken, erhellt nur gerade die Kinderstube und die Herzen der Kleinen, weiter reichen seine Strahlen nicht; es ist und bleibt finster in den andern Räumen und in den andern Herzen auch.

Der Januar und der Februar bringen Schnee, ungeheure Massen von Schnee, Wartau liegt wie verschanzt hinter weißen Mauern. Kein Laut, kein Ton in Hof und Garten; das Fauchen und Klappern der Dampfdreschmaschine fällt aus in diesem Winter, wie die Ernte im Sommer ausgefallen ist. Die Fenster des Schlosses sind gleichmäßig zugefroren; der schmale, durch den Schnee geschaufelte Pfad ist wenig betreten. Weder die alten Fräulein noch Mohrmann verlassen das Schloß oft, und zum Besuch kehrt niemand mehr ein, nur der Briefbote erscheint fast zu häufig, denn er bringt selten etwas Frohes. Anton sieht ihm immer von seinem Fenster aus entgegen, mit Sorgenfalten auf der Stirn.

In solchen stillen Zeiten kommen die Erinnerungen gern zu den Menschen. In den Abendstunden, wenn das bläulichweiße Schneelicht das Zimmer dämmernd erhellt, dann treten sie ein, die Gestalten, die von uns gegangen sind, gleichviel ob aus dem Leben oder durch das Leben von uns geschieden, und reden so eindringlich, obgleich ohne Laut und Sprache; und in einem Winkel sitzt eine Gestalt mit vorwurfsvollen in Leid verschwommenen Augen und starrt uns unverwandt an. Das ist die Reue, deren Blicke so martern können, daß man sie kaum zu ertragen vermeint. Und jeden Abend fast kam sie zu Anton und quälte ihn, und jeden Abend trat die Erinnerung zu ihm und fragte: „Weißt du noch? Weißt du noch?“ Und er fühlt sich elender und kränker von Tag zu Tage.

Zuerst ist’s immer die alte Mutter, und immer liegt sie da wie in ihrer Sterbestunde, und immer sagt sie: „Halte dein Weib hoch, Anto, halte sie gut! Ja, die ist von anderm Schrot und Korn, wie die da in Halle, du weißt schon – halte sie gut, Anto, deine Christel!“

Und dann kommt die Christel. Die sagt gar nichts, die will nur zu ihm und will ihm über die Stirn streichen, wie sie so scheu zärtlich that, wenn er verstimmt schien. Sie war so schüchtern, sie fand selten den Mut zu einer Liebkosung, obgleich sie ihn liebte so tief und so treu, wie er jetzt erst weiß. Und in diesen Erinnerungen weicht auch sie zurück vor der schönen jungen Frau, die sich ihm an die Brust wirft und heiße Küsse für ihn hat. Und während er so träumt, klingen ihm die Worte Ediths in die Ohren: „Ich habe ihn nie geliebt, und liebe ihn auch heute noch nicht, ich habe mich einfach für euch und für Wartau geopfert –“, das Geständnis: „Ich fürchtete mich vor der Armut.“ Und er macht eine Bewegung mit den Armen, als wolle er sie fortstoßen. Sie ist so schmachvoll, diese Erinnerung; die Seele ist ihm wund davon, der Kopf schmerzt, so oft muß er an diese Worte denken. Er kann nicht anders – immer wieder – immer wieder sind sie da!

Der Arzt hat ihm Brom verordnet gegen seine Schlaflosigkeit, aber was hilft Brom dawider? Irgend eine Zufälligkeit, ein Gegenstand, der an sie erinnert, und das wohlthätig beruhigte Gehirn ist in neuer fieberhafter Thätigkeit, und ein Gedanke jagt den andern, bis das ganze Trugbild vor ihm steht. Von ihr kommt er auf die Kinder, die nun keine Mutter haben, und von ihnen auf ihre Erziehung, ihre Zukunft, auf seine pekuniären Sorgen, die ihn fast zu Boden drücken. Geld soll er schaffen, immer wieder Geld! Geld für das Bergwerk, Geld für den Bau der Brauerei, Geld für Futtermittel seines Viehes, für Kartoffeln; es sind ja keine geerntet, und das, was noch eingebracht wurde von dieser unentbehrlichen Frucht, riecht schon aus der Schüssel, wenn sie aufgetragen wird, und sieht mißfarbig und krank aus. Geld für Saatkorn, Geld für den Hausstand und Geld für die ferne Frau, die bis jetzt in keiner Weise ihre Forderungen beschränkt hat.

Heine kommt und geht finsteren Gesichtes mit den Wirtschaftsbüchern; noch ist ja immer Rat geschafft, aber wie lange noch wird es so weiter gehen? Wie lange noch? „Wenn die nächste Ernte eine zehnfache wäre, dann vielleicht,“ sagt er zu seiner Frau, „und wenn das verrückte Frauensbild, Gott vergeb’ mir die Sünde, da draußen ein bißchen in der Wüste promeniert und es käme gerade ein hungriger Löwe –“

„Heine! Heine!“ warnt seine kleine Frau, „man soll keinem Böses wünschen!“

„Na, meinetwegen – dann wünsche ich, daß ein indischer Nabob sie zur Frau nimmt und sie vergolden läßt, wenn wir nur Ruhe vor ihr kriegen. Einmal, mein Gott, muß ihm doch die Geduld reißen!“ – 0000000

Die beiden alten Fräulein sitzen da oben in ihren Stuben, scheu und kleinlaut, und machen Pläne über Pläne, wie das zerstörte Glück des Hauses wieder aufgebaut werden könnte, aber es bleibt bei den Plänen. Was sollten sie denn auch thun? Die Stiftsdame hat zuerst an Tonettens Stelle zu Edith reisen wollen, aber sie fühlte, daß ihre geistige und körperliche Kraft nicht mehr ausreichen würde, um das Rettungswerk, das ohnehin sehr fragliche Resultate versprach, auszuführen, zweitens fehlte das Geld, und drittens wußte man nicht, wo Edith sich aufhält. Briefe kamen nach Wochen zurück mit dem amtlichen Vermerk, daß Adressatin nicht aufzufinden sei, und der Bankier in Leipzig, an den die Damen sich hinter Antons Rücken wandten, konnte nur mitteilen, daß Frau Mohrmann anstatt der monatlichen Geldsendungen um einen Kreditbrief gebeten habe, ausgestellt auf Bankiers der verschiedensten Städte Italiens und Südfrankreichs.

Was nun?

Und die beiden alten Damen pflegen, im Verein mit der Frau Klauß, die Kinder und suchen nach Möglichkeit gut zu machen an dem einsamen Manne da unten, was ihm durch ihre Nichte Uebles geschehen ist, jede nach ihrer Weise. Aber sie haben wenig Glück damit, er bemerkt es kaum. –

Der Februar geht vorüber, noch immer im Schnee, der schützend auf der Wintersaat liegt. Der März tritt seine Herrschaft an und bringt ihn zum Schmelzen, auf dem Hofe wird’s lebendig, Heines Stimme wettert wieder zwischen den Knechten, und in langer Reihe ziehen die Gespanne zum Pflügen ins Feld. Auch über Anton kommt es wie ein Erwachen: er nimmt Mütze und Stock und geht vom Hofe. Es ist heute einer der bekannten Sommertage, die der März bringt, fast heiß in der Sonne, die über den kahlen Bäumen und Sträuchern lacht. Die Chausseegräben stehen bis zum Rand voll Wasser, hier und da im Schatten ein bißchen mißfarbener Schnee, und die Stare sitzen auf den Zweigen vor den altgewohnten Kästchen und singen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0348.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)