Seite:Die Gartenlaube (1898) 0115.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

der Erde von der Sonne. Da nun diese in runder Zahl 20 Millionen Meilen beträgt, so läßt sich durch Multiplikation beider Ziffern die Zahl leicht ausrechnen, welche die Distanz des Sirius von der Erde in Meilen ausdrückt. Für unser Vorstellungsvermögen ist diese Zahl freilich eine tote, denn vergebens zwingt unsre Fassungskraft sich, den Raum zu versinnlichen, den eine solche Entfernung umfaßt. Eine Kanonenkugel würde in Millionen Jahren diesen Raum nicht durchfliegen, der Lichtstrahl, der zwischen zwei Pulsschlägen viermal den Erdball umkreist, gebraucht 17 volle Jahre, um vom Sirius bis zur Erde zu gelangen.

Der Sirius ist aber trotz seiner Helligkeit nicht der unserm Sonnensystem am nächsten schwebende Stern. Nach dem gegenwärtigen Stande unserer astronomischen Kenntnisse ist der helle Hauptstern im Centauren derjenige, welcher sich am nächsten unserer Sonne befindet. Die Entfernung beträgt 265 000 Erdbahnhalbmesser, und das Licht braucht etwa vier Jahre, um von jenem Sterne zu uns zu gelangen. Gegenüber solchen Entfernungen erlahmt die menschliche Einbildungskraft! Aber lehrreich für unsere Vernunft sind jene Zahlen doch, denn sie bilden die Grundlage zu weiteren Schlüssen, die unsere Erkenntnis vermehren. Die Größe derselben ist es freilich nicht, wodurch die Bedeutung der hier besprochenen Forschungen gekennzeichnet wird. Solche Zahlen würden uns ebenso gleichgültig sein wie die Ziffern, welche die Summe aller Sandkörner der Wüste Sahara darstellen, wenn nicht jene Forschungen einen Beitrag lieferten zur richtigen Erkenntnis unserer eigenen Stellung im Weltall.

Wenn man einen leuchtenden Körper aus der Entfernung von 1 Fuß in die Entfernung von 2 Fuß bringt, so ist seine Leuchtkraft für den Beobachter nur noch 1/4 der anfänglichen. Bringt man ihn in die Entfernung von 3 Fuß, so ist sie nur 1/9, in der Entfernung von 4 Fuß nur 1/16 etc. Denkt man sich nun die Sonne in die Entfernung des Sirius gerückt, also eine Million Mal weiter von der Erde entfernt als gegenwärtig, so läßt sich leicht berechnen, daß sie uns 1000 Milliarden Mal schwächer leuchtend erscheinen müßte als heute. Sie würde dann, wie sich zeigen läßt, nur etwa den 60. Teil der Helligkeit des Sirius zeigen.

Sonach ist also klar, daß Sirius in seiner Heimat eine Sonne ist, welche unsere Sonne an Lichtfülle sechzigmal übertrifft. Für uns Menschen würde dieser Stern als Centralgestirn, um welchen sich die Erde bewegt, nicht geeignet sein; menschliche Augen könnten seinen Glanz nicht ertragen, für irdische Organismen würde seine Glut nur verderblich werden. Wenn also der glänzende Sirius den Mittelpunkt eines Weltsystems bildet, ähnlich wie die Sonne das Centrum unseres Planetensystems ist, so dürfen wir annehmen, daß dort eine ganz andere Anordnung der Dinge herrscht wie in unserem heimischen Sonnengebiete. Dieser Schluß findet in der That eine völlige Bestätigung in einer der schönsten Entdeckungen, welche jemals von Menschen gemacht wurden.

Wie schon erwähnt, erscheint uns Sirius unbeweglich am Himmel an einem und dem nämlichen Orte zu verharren, trotzdem er sich ununterbrochen durch den Weltraum fortbewegt. Durch Anwendung sehr feiner Meßapparate hat sich indessen ergeben, daß diese Fortbewegung doch meßbar ist. Der berühmte Astronom Bessel fand nun vor mehr als 50 Jahren aus seinen Beobachtungen, daß in dieser geringen Eigenbewegung des Sirius sehr kleine Unregelmäßigkeiten vorkommen; er meinte wahrzunehmen, daß der Stern seine Bewegung bald etwas beschleunige, bald etwas verzögere, ja daß derselbe in gewissen Jahren sich scheinbar sogar ein wenig rückwärts bewege. Bessel schloß daraus, daß Sirius in großer Nähe durch einen andern, uns unsichtbaren Stern in seiner Bewegung beeinflußt werde. Nachdem er alle Möglichkeiten mit höchster Sorgfalt geprüft und erwogen, sprach er zuletzt unumwunden aus, daß Sirius ein Doppelstern sei, d. h. ein Stern, welcher sich gleichzeitig mit einem andern uns unsichtbaren um den gemeinsamen Schwerpunkt bewege, in einer kreisförmigen Bahn mit einer Umlaufszeit von etwa 50 Jahren. Obgleich kein Fernrohr imstande war, diese „dunkle Masse“ in der Nähe des Sirius zu zeigen, beharrte Bessel bis zu seinem Tode fest in der Ueberzeugung, daß diese Masse vorhanden sein müsse und den Sirius zu einer Umlaufsbewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt zwinge.

Und seine Behauptung wurde glänzend gerechtfertigt. Seit der Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts nahm die Kunst, mächtige Ferngläser herzustellen, einen gewaltigen Aufschwung; besonders in Nordamerika wurden ungeheure Teleskope gebaut, die an optischer Kraft ihre Vorgänger weit hinter sich ließen. Ein solches Riesenfernrohr, das damals mächtigste seiner Art, war im Januar 1862 gerade vollendet und sein Schöpfer, der Optiker Alvan George Clark, unternahm eine Prüfung desselben. Der Abend des 31. Januar war ein sternklarer, und da Sirius in ziemlich ruhigem Licht gerade sichtbar war, so richtete Clark sein neues Instrument auf diesen Stern. Er erblickte ihn als kleines, strahlenloses Scheibchen in stechend hellem blauweißen Licht und, wunderbar, neben diesem glänzenden Stern stand ein feines lichtschwaches Sternchen, das nur eben wahrgenommen werden konnte, ein Begleiter des Sirius! Die Clarksche Entdeckung machte bald die Runde durch alle astronomischen und Tagesblätter und es fand sich, daß der kleine Stern genau an der Stelle stand, wo die dunkle Masse Bessels stehen mußte. Die Beobachtungen in den nächsten Jahren zeigten ferner, daß Bessel auch die Umlaufszeit des Sirius annähernd richtig geschätzt hat, denn sie beträgt in Wirklichkeit 492/5 Jahre.

Wie aber in der Wissenschaft die Erkenntnis einer Wahrheit immer zu weiteren Ergebnissen leitet, so auch in diesem Falle. Da die Entfernung des Sirius von der Erde bekannt war, so konnte man die Entfernung seines Begleiters von ihm selbst leicht berechnen und fand dafür 740 Millionen Meilen. Wenn unsere Erde ebensoweit von der Sonne entfernt wäre, so würde sie ihre Bahn nicht mehr in einem Jahr durchlaufen können, sondern dazu 225 Jahre brauchen. Wäre unsere Sonne größer an Masse oder Gewicht, so würde die Umlaufszeit der Erde und jedes Planeten kürzer sein. Im Siriussystem ist die Umlaufszeit thatsächlich kürzer und hieraus folgt also mit Notwendigkeit, daß Sirius und sein Begleiter an Masse oder Gewicht unsere Sonne übertreffen müssen. Auf dem Wege der astronomischen Berechnung läßt sich dies ganz genau feststellen und es findet sich, daß Sirius unsere Sonne fast vierzehnmal, sein Begleiter dieselbe fast siebenmal an Gewicht übertrifft. Letzterer ist also in Bezug auf sein Gewicht halb so groß als Sirius selbst, aber seine Helligkeit ist sehr viel schwächer, sie beträgt kaum den fünftausendsten Teil von derjenigen des Sirius. Das sind die wunderbaren Ergebnisse, welche die Wissenschaft über das Wesen des glänzenden Sirius ermittelt hat, und diese sämtlichen Resultate gehören der neuesten Zeit an, sie sind in den letzten sechs Jahrzehnten errungen worden.

Der leuchtende Punkt, dem einst die Aegypter unter dem Namen Isis-Sothis göttliche Verehrung bezeigten, dessen Ruhm als Verkündiger der segenspendenden Nilflut sie in preisenden Inschriften der Nachwelt überlieferten, ist von der neuen Wissenschaft als eine Sonne erkannt worden, größer, glühender und strahlender als unsere eigene Sonne; diese menschliche Wissenschaft hat seine Entfernung gemessen und den Stern samt seinem Begleiter wie auf einer Wage gewogen! Mit Bewunderung erkennen wir hier, wie der Mensch, geleitet durch das Licht seiner Vernunft, von der kleineren Erde aus eingedrungen ist in die unermeßlichen Tiefen des Weltenraums; wie er den Maßstab seines Verstands gelegt hat an den Bau und die Einrichtung ferner Sonnensysteme und über Zeit und Raum sich aufschwang zum Verständnis von Einrichtungen im Bau des Weltalls, die seiner Wahrnehmung auf ewig entrückt schienen. Was unsere Nachkommen dereinst noch erforschen und erfahren werden, wer vermöchte dies voraus zu sagen? Nur so viel ist sicher, daß der Strom der Forschung nimmer versiegen, daß der Quell der Erkenntnis stets reicher fließen und die Herrschaft der menschlichen Vernunft sich stets siegreicher geltend machen wird.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0115.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)