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ist mit den Seinen nach England entflohen, die Republik proklamiert! In allen Monarchien des Deutschen Bundes war die Wirkung von gleicher Stärke. In jedem Fürstenschloß weckte die Nachricht Furcht und Beklemmung: die Erinnerung an das Kriegsunglück, welches die erste französische Republik über Deutschland gebracht hatte, verband sich dort mit der Befürchtung, daß von einem Volk, dem 33 Jahre lang der Patriotismus mit allen Mitteln der Macht ausgetrieben worden war, ein patriotischer Heldenmut, wie er die Kämpfer der Befreiungskriege beseelte, kaum noch zu erwarten sei. Im Volke aber ging von Mund zu Munde der Jubelruf: der Tag der Freiheit, der uns auch die Einheit bringt, ist gekommen!

Prinz Johann von Sachsen.

In einer ganzen Reihe von deutschen Staaten herrschte, wie in Preußen, eine feindselige Spannung zwischen Fürst und Volk. In Sachsen wirkte der Konflikt nach, den die Vorgänge in Leipzig am 12. August 1845 heraufbeschworen hatten. Dort war bei Anwesenheit des Prinzen Johann, den man fälschlich für den Urheber von Eingriffen in die Religionsfreiheit hielt, jener Krawall vor dem „Hotel de Prusse“ entstanden, bei welchem Bürgerblut floß, und dessen weitere Ausdehnung dann nur der beschwichtigende Einfluß Robert Blums hintanhielt. In Bayern hatte das Verhältnis des für Kunst und Schönheit romantisch begeisterten Königs Ludwig zu der Tänzerin Lola Montez, die sich Uebergriffe ins politische Leben erlaubte, zu tumultuarischen Auftritten in München geführt, welche das Ansehen des Herrschers tief erschütterten. In Hannover war vom alten Welfenkönig Ernst August die Petition des Landtags um Oeffentlichkeit seiner Verhandlungen mit einem schroffen „Niemals!“ beantwortet und dadurch aufs neue die Erinnerung an den Verfassungsbruch geweckt worden, der zehn Jahre zuvor die „Göttinger Sieben“ aus dem Lande vertrieben. In Kurhessen hatte man endlich Sylvester Jordan von den gegen ihn erhobenen fälschlichen Anklagen freisprechen müssen – nach sechs Jahren schwerer Untersuchungshaft, und vom neuen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I war nach hannöverschem Muster beim Antritt der Regierung ein Verfassungsbruch, freilich vergebens, versucht worden. In Württemberg endlich hatte König Wilhelm I, der bei seinem Regierungsjubiläum fünf Jahre vorher zahlreiche Beweise seltener Volksbeliebtheit empfangen, den Stuttgarter „Brotkrawall“, den der herrschende Notstand erzeugt, mit militärischem Aufgebot unterdrückt, und die Drohungen, die sich aus der Menge gegen ihn richteten, hatten ihn tief erbittert.

König Ludwig I von Bayern.

König Wilhelm I von Württemberg.
Nach einer Lithographie von Fleischhauer.

Ein solcher Notstand, durch Mißernten bewirkt, hatte schon zwei Jahre lang auch in der Mehrzahl der anderen deutschen Länder, vor allem in Bayern, Sachsen und vielen Provinzen Preußens und Oesterreichs, geherrscht, und überall hatten sich die Regierungsorgane und Einrichtungen als völlig unzulänglich für das erforderliche Hilfswerk erwiesen. Der in vielen ländlichen Ortschaften, namentlich Schlesiens, geradezu grauenhafte Verlauf dieser Heimsuchungen offenbarte die Unzulänglichkeit des verrosteten Verwaltungsmechanismus des abgewirtschafteten Polizeistaats in ihrer ganzen Blöße. In Schlesien, wo es zum Ausbruch einer furchtbaren Hungertyphusepidemie kam, vergingen drei Monate, bis die von einem Landrat erbetenen Lebensmittel aus den Militärmagazinen geliefert wurden. Bis Ende 1847 waren allein im Kreise Pleß 7000 Menschen am Typhus gestorben, 961 dem Hunger direkt erlegen. Der König erfuhr von dem Elend erst, nachdem es den Höhegrad überschritten. Furchtbar rächte sich jetzt die gewaltsame Unterdrückung der öffentlichen Meinung und ihres hilfsmächtigsten Mittels, der Presse. Furchtbar trat auch die Pflichtversäumnis zu Tage, welche die kleinliche dynastische Eifersucht und die deutsche Kleinstaaterei durch die Hintanhaltung des Ausbaus eines Grenze mit Grenze verbindenden Eisenbahnnetzes begangen hatten. Während zwischen Englands Seehäfen und Industriecentren längst ein vielverzweigtes Schienennetz den Verkehr vermittelte, kam es zwischen den deutschen Hafenstädten und dem industriereichen Hinterland zu keiner solchen Verbindung, weil das alte Regierungssystem die Eisenbahn als gefährlichen Neuerer haßte und kein Land dem andern den daraus sich ergebenden Vorteil gönnte. Während in einzelnen deutschen Ländern die entstandenen Eisenbahnlinien Handel und Verkehr mächtig hoben, gerieten diese in den eisenbahnlosen ins Stocken; überall aber drückte die englische Konkurrenz auf die Preise der Fabrikindustrie, deren Arbeiterproletariat von der leidenden Landwirtschaft täglich Zuzug erhielt. Von 1840 bis 1847 schnellte die Auswanderung um das Dreifache empor, von 34000 Personen auf 110000.

Lola Montez.

So kam es, daß die Nachricht von dem kurzen Prozeß, den das Volk von Paris seinem mißliebigen König und dessen Minister gemacht, einen revolutionären Zündstoff in Deutschland vorfand, der nur des Funkens harrte, um aufzuflammen. Ueberall drängte sich in den Residenzstädten hinter den Führern aus dem gebildeten Bürgertum, welche jetzt die Forderungen der Liberalen direkt in die Kabinette der Fürsten brachten, eine zahllose Menge, die kein politisches Ideal, sondern das Elend der Zeit zum Aufruhr antrieb. Und wenn es den Führern der Volksbewegung für jetzt gelang, dieselbe – von Berlin abgesehen – überall in die Bahnen der Ordnung zu lenken, die Gewähr von Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der Kammern wie der Gerichte, Volksbewaffnung nebst anderen Rechten durchzusetzen, ohne daß es zu größeren blutigen Zusammenstößen zwischen dem Volke und der Staatsgewalt kam, so war dies den bösen „Mannheimern und Heppenheimern“ zu danken. Sie hatten mit ihrer großangelegten Agitation dafür gesorgt, daß alle die einzelnen kleinen Erhebungen ein großes gemeinsames Ziel auf dem Boden gesetzlicher Ordnung fanden. Ueberall gab es politisch geschulte Männer, welche vor Ministern und Fürsten die Forderungen des Volkes wirksam zu vertreten vermochten, allen voran jene, die mit Itzstein und Welcker in Hallgarten und Heppenheim getagt hatten. Und unter den Forderungen befand sich überall die der „Nationalvertretung beim Bundestag“: ein „Deutsches Parlament!“ Das seit Jahren in den Turner- und Sängervereinen im stillen gepflegte und dort wie überall verfolgte Ideal eines neuen einigen und freien Deutschen Reichs hielt mit seinem berauschenden Glanze die Seele des Volkes im Bann. Die Verwirklichung dieses Ideals, durch eigene Kraft und nach eigenem Ermessen, durch Abgeordnete ihrer freien Wahl in einem freien Parlamente, schien der großen Mehrzahl gewährleistet durch das Versprechen seiner Einberufung. Die Erwartung einer „neuen, großen, guten Zeit“ unterdrückte für jetzt den Ausbruch der elementaren Volksleidenschaften. Nur in Berlin führte die Märzbewegung zu einem blutigen Straßenkampf.

(Fortsetzung folgt.)




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