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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Gesicht; Christel glaubt ein Kichern zu bemerken. Sie spricht noch mit der alten Waschfrau und geht dann hinab.

Unten ist Besuch angekommen, der neue Besitzer von Wirnitz, ein Herr Ramann, mit Frau und Töchtern. Wie es so auf dem Lande Sitte ist, werden sie gebeten, dazubleiben, und die Herren sind bald im tiefsten Fachgespräch.

Christel vergißt es auch später, nach den Torfspuren zu fragen; sie vergißt es auch am anderen Tage. Sie hat viel zu thun: Anton ist nach Leipzig gefahren und kommt erst nachts zurück.

Am Tage nach seiner Rückkehr, so zwischen drei und vier Uhr nachmittags, hört Christel die aufgeregte Stimme ihres Mannes: „Die Pferde sollen heraus und vor die Wartauer Spritze, in Altwitz brennt es!“ Sie sieht ihn auch gleich darauf über den Hof eilen und in den Ställen verschwinden. Ohne Besinnen eilt sie ihm nach in den Stall, wo die Leute beschäftigt sind, die Pferde anzuschirren. Anton kommt eben mit einem Sattel vom Geschirrboden und legt ihn dem Fuchs auf; sein Gesicht ist stark gerötet, es sieht aus, als habe er geweint. Aber darauf zu achten hat Christel keine Zeit; sie bemerkt, daß ihm Hut und Reitgerte noch fehlen, und eilt zurück, um sie zu holen. Sie muß sie ihm schon aufs Pferd reichen.

„Aengstige dich nicht, Christel,“ sagt er, „auch wenn ich länger ausbleibe.“

Dann wirft er das Pferd herum, ruft ihr ein kurzes „Adieu“ zu und reitet vom Hofe, und wie er vom Pflaster herunter ist, setzt er das Tier in Galopp und jagt wie toll an den Pferden vorüber, die die Spritze aus dem Gemeindehause holen sollen.

Christel sieht ihm nach, sie steht noch ein Weilchen neben der Inspektorin inmitten der Mägde, die allerhand Mutmaßungen Raum geben, ob es wohl auf dem Gute brennt oder im Dorfe, und wie es entstanden ist. Möglicherweise auch könnte es Brandstiftung sein, man habe in letzter Zeit so viel gehört und der Altwitzer Graf sei ein harter Herr, aber wie’s auch sein möge – die armen Menschen!

Die Mägde laufen jetzt auf den Hausboden, um besser sehen zu können; Christel geht ins Schloß zurück, schaut noch in Antons Stube, ob er alles verschlossen hat in der Eile, und klopft dann oben bei den Damen an, aber es ruft niemand Herein. Das kleine halbwüchsige Mädchen, das eine Art Zofe bei Fräulein Tonette vorstellt, kommt eben aus der Schlafstube mit einem Wischtuch und giebt den Bescheid: die Damen seien zu Fuß vor einer halben Stunde nach Altwitz gegangen; sie seien zum Kaffee eingeladen bei der alten Gräfin.

Christel sieht das Mädchen ganz erstaunt an. „Nach Altwitz?“ fragt sie – „zu Fuß?“

„Ja, Frau Mohrmann; nach zwei Uhr sind sie gegangen. Ich habe rechte Angst,“ setzt es wichtig hinzu.

Einen Augenblick bleibt Christel sinnend stehen. Es kommt ein scharfer Zug durch die offnen Fenster und die Glocken des Altwitzer Kirchleins klingen unheimlich hastig in abgebrochenen Schlägen herüber wie angstvolles, grelles Hilfegeschrei. Endlich steigt sie die Treppe zum oberen Geschoß empor, sie will von einem nach der Altwitzer Seite gelegenen Zimmer aus sehen, ob es wirklich Großfeuer ist. Wie sie auf dem Vorplatz ankommt, erblickt sie die Thüre zur Bibliothek halb geöffnet, und ohne Besinnen läuft sie dort hinein; vom Turme muß man es ja am besten beobachten können, er liegt direkt nach Altwitz zu. Hinter ihr fliegt krachend die Thüre ins Schloß, sie achtet es nicht, sie ist schon in dem runden Erker, den der Turm bildet.

Eine düstere, rotangestrahlte Wolke schwebt über den Bäumen, die das Dorf umgeben – es ist wirklich das Herrenhaus, das brennt. O ihr armen Menschen! Und da fällt Anton ihr ein – ob er bei dem tollen Ritt glücklich ankam? Ob er sich schont und an sein Leben, seine Gesundheit denkt? Ach, und die Damen - - Eine schreckliche Unruhe packt sie plötzlich, sie will hinüberfahren, vielleicht kann auch sie helfen.

Sie läuft zur Thür – die ist zu – das altmodische Schloß eingesprungen, der Schlüssel steckt von außen. Sie stößt mit den Fäusten dagegen, kaum ein Geräusch giebt’s an dem dicken Eichenholz. Sie rüttelt am Schloß – vergebens. Hilflos sieht sie sich um – es wäre doch schrecklich, hier oben eingesperrt zu sitzen in der Kälte, wer weiß wie lange? – Aber wie denn? Es ist absolut nicht kalt hier! Sie sieht sich erst jetzt groß um, ein einziges Mal war sie bis heute in der Bibliothek. Dann faßt sie sich an die Stirn – im Kachelofen flackert ja Feuer? Der Schreibtisch inmitten des großen Raumes ist offenbar eben benutzt worden, der Stuhl davor wie in Hast fortgeschoben, der Teppich zeigt sandige Spuren.

Christel lächelt ein wenig. Also daher der Torf? – hier oben verkriecht sich ihr Mann, stöbert in alten Urkunden und Büchern – heimlich? Und thut so geheimnisvoll damit, so ge – heim – nis – voll – –. Die Augen der Frau sind über die von oben bis unten mit Bücherregalen bedeckten Wände geschweift. Hunderte von Bänden, alle in gleichem Ledereinband, das Wappen der Wartaus auf dem Rücken. Die einzige freie Wand am Ofen ist mit Bildern behängt, alten vergilbten Kupferstichen in glatten, braunen Holzrahmen, lauter Darstellungen aus dem Leben Napoleons I, er selbst nach dem bekannten Gemälde von Delaroche. Christel betrachtet diese Schildereien wie geistesabwesend – Napoleon als General, als Konsul, Napoleon in Aegypten und in den Tuilerien als Kaiser und endlich der Gefangene auf Elba. Dort ist Marie Louise und der kleine König von Rom, dort auch Josephine, die schöne, graziöse Josephine, die ihr kaiserlicher Gemahl verstieß, weil sie ihm keinen Erben gab.

Christels Augen bleiben an einem dieser Bilder hängen – Josephinens Abschied von ihrem Gemahl. Er steht in der bekannten Haltung mit untergeschlagenen Armen vor ihr, die weinend sich abwendet; im Hintergrunde, draußen vor dem Säulenportal, hält der Reisewagen, der sie nach Malmaison führen soll; ein paar unmöglich lange Gestalten, als hätte sie Chodowiecki gezeichnet, und doch in all ihrer Steifheit so packend! „Napoleon litt furchtbar unter dieser Trennung,“ steht darunter, „aber er brachte Frankreich das Opfer, der Frau, die er am meisten liebte, zu entsagen.“ So lautet die altmodische Handschrift neben dem gedruckten französischen Text.

Beim Anblick dieses Bildes befällt es Christel wie eine böse Ahnung; sie starrt es immerzu an und dabei bekommen ihre Züge einen ganz verstörten Ausdruck. Sie läuft abermals zur Thür und ruft und rüttelt, niemand antwortet. Sie tritt wieder in den Turm und schaut nach Altwitz. Da lodern jetzt in den Winterhimmel gelbe Flammen empor – es muß ein entsetzliches Feuer sein – und das Wimmern der Glocken ist lauter und heftiger geworden.

Sie kann den Anblick nicht ertragen, sie geht ein paarmal unruhig in dem großen Raum hin und her und setzt sich endlich wie erschöpft auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Ihre Hand nestelt nervös im Haar, der Kopf schmerzt ihr, die Haarnadeln drücken sie und wie abwesend schweifen ihre Blicke über das beschriebene Briefblatt, das vor ihr liegt.

„Wenn ihm nur nichts geschieht, wenn er nur erst wieder da wäre,“ murmelt sie, und dabei bemerkt sie ganz äußerliche Dinge. Einen Schubkasten, der halb geöffnet ist, das ungeheure beklexte Tintenfaß, eine Feder, die wie hastig weggeschleudert neben dem Papier liegt, merkwürdiges Papier, so vergilbt, so grob und das Wasserzeichen –. Christel kann von diesem Platz durch das Fenster des Turmes direkt nach Altwitz sehen. Anton hat hier gesessen, und da hat er den Rauch bemerkt – ja, so ist’s gewesen! Er ist dann hinuntergestürzt und hat hier alles vergessen.

Ob er wohl wußte, daß Edith dort war? – –

Was für alte Schriftstücke studiert er denn nur hier? Sie zieht mechanisch das Blatt heran und liest. Dann schiebt sie es mit ganz verfallenem Antlitz wieder zurück, räuspert sich, faßt sich an die Kehle, will aufstehen und bleibt doch wie festgehalten sitzen.

Antons Schrift – ihr Name! Aber dieses alte Papier? Ach, dort liegt ein ganzer Stoß, er verbraucht es wohl, hat’s hier oben gefunden?

Sie sitzt davor, die Hände ineinander gekrampft, die Augen starr auf die ferne lodernde Brandstätte gerichtet. Dann streckt sie die Hand aus nach dem Papier, eine zitternde Hand, die sich zwei-, dreimal wieder zurückzieht, bevor sie das Briefblatt ergreift.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0107.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2020)