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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

ganz und gar in Fetzen. Ehe ich mich aufmachte in die neue Heimat, wollte und mußte ich Gewißheit haben. Freilich – als ich beim Hereinkommen Ihr Gesicht sah, da sank mir schon der hohe Mut. Ich hätte mich davon warnen lassen, hätte es für heute beim Erzählen bewenden lassen sollen. Aber es war eben stärker als ich. Verzeihen Sie mir. Und bitte, sagen Sie nicht Nein; Sagen Sie: Noch nicht, später! Aber sagen Sie nicht Nein!“

Hanna schüttelte aufs neue den Kopf, nicht mehr furchtsam, nur traurig. Sie war wieder ruhig, konnte auch wieder sprechen.

„Es thut mir von ganzem Herzen leid, Sie zu kränken. Aber es muß dabei bleiben. Ich kann nicht mehr. Ich hab’ mich tot gelebt. Was von mir noch übrig ist, muß hier in der Stille zu Ende gehen. Sie kennen mein Leben dieser Jahre nicht, ich kann es Ihnen auch nicht schildern. Sie müssen mir nur glauben, wenn ich Ihnen sage: Es geht nicht mehr.“

„Liebe Hanna,“ bat er eindringlich, „Wie alt sind Sie? Meines Wissens noch nicht dreißig. Und Ihre Ehe hat nur vier Jahre gedauert.“

„Nur vier,“ wiederholte sie trübe. „Es giebt Jahre, sehen Sie, die man zählt, und Jahre, die man mißt. Diese vier waren lang. Ausreichend. Ich bin eine alte Frau, glauben Sie mir.“

Er schüttelte mit einem liebreichen Lächeln rasch den Kopf.

„Sie sollten mir wohl wieder jung werden da draußen. Das wäre meine geringste Sorge! In der Waldfreiheit würden Sie aufleben in unsrem Bubenschloß, in unsrem Ameisennest. Man ist ja nur so alt, als man sich fühlt. Das ist zwar ein bekannter Satz, aber Sie wenden ihn verkehrt an, scheint mir. Man kann sich nämlich auch künstlich alt machen, und das darf man nicht. Im Thüringer Wald wären Sie übers Jahr sechzehn, hier freilich werden Sie bald siebzig sein, das ist sicher. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie etwa nicht verstünde, ich verstehe Sie viel besser, als Sie wissen. Aber ich fühle, daß es das Richtige für Sie nicht ist, hier eingesponnen zu sitzen. Immer allein sein, sehen Sie, das ist noch keine Ruhe, auf die Dauer, meine ich, ist es keine, keine für Sie. Und nichts zu thun zu haben, nichts für andre zu thun zu haben, das ist auch keine Ruhe. Die innerliche Beschäftigungslosigkeit muß Sie nach und nach aufreiben, statt Ihnen wohlzuthun. Die wird Sie erst ganz alt machen. Ist es nur der Gedanke an die verlorene Jugend, der Sie quält? Glauben Sie, Sie arme Märtyrerin, Sie wären mir in Ihren Leidensjahren über den Kopf gewachsen? Lange nicht! Gegen meine herangedarbten Sechsunddreißig kommen Sie immer noch nicht auf. Und dann: Eine geliebte kranke Frau ist auch immer das Kind ihres Mannes. Merken Sie sich das.“

Ein ganz andrer Gedanke schien ihm plötzlich durch den Kopf zu fahren und machte ihn erblassen.

„Das ist so recht ein Stückchen vom gewöhnlichen Mannesegoismus,“ murmelte er. „Weil mir so zu Mute ist, als könnt’s nicht anders sein, weil ich bitte Sie, sagen Sie mir rund heraus: So wie Sie einstmals für mich gefühlt haben, das ist vorbei? das ist gestorben? das ist verschüttet? Im Augenblick, wo Sie mir das sagen – und warum sollt’s nicht sein! –- geh' ich meiner Wege und komme nicht wieder. Ich sehe ein, das hätte meine erste Frage sein müssen. Ich bin offenbar verrückt.“

Es lag ein solcher Ausdruck von Qual in seinem Gesicht, daß es sie erschütterte, sie brach in Thränen aus.

„Sprechen Sie,“ bat er mit gepreßter Stimme, „weinen Sie nicht, sprechen Sie!“

Warum schüttelte sie den Kopf. – Es war ja doch aus. Noch heute vormittag hatte sie so genau gewußt, daß es aus sei. Aber sie schüttelte den Kopf. Wie eine verborgene heiße Quelle brach es aus dem tiefsten Innern ihrer Seele hervor, strömte über sie hin, machte sie zittern. Sprechen konnte sie nicht, wollte auch nicht. Zurückgelehnt in ihrem Sessel, eine Hand über den Augen, saß sie und weinte und schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein, es war nicht aus! Wie hätte sie das nur je glauben können!

„Hanna,“ murmelte Rettenbacher mit erstickter Stimme. Er nahm ihre freie Hand und küßte sie leidenschaftlich, küßte jeden einzelnen Finger, drückte sie an seine Stirn, an seine Augen und wieder an den brennenden Mund. „Hanna! Liebling! Mich ansehen, bitte, bitte, nicht mehr weinen, mich ansehen!“

Er hielt jetzt auch ihre andre Hand. Und sie sah ihn an.

„Mein Liebling“, wiederholte er leise. „Mein einziger Herzensliebling! Wie lange – wie lange –. Dem Schweigsamen lösten sich auch jetzt die Worte nur schwer von der Zunge. Aber ihr fast schmerzlich inniger Klang redete von den Jahren der Entbehrung, von den Jahren der Hoffnungslosigkeit. In seinen Augen lag die hinreißendste Bitte um Glück. „Es ist also nicht aus?“

Dies Letzte rüttelte Hanna wieder wach. Sie erschrak; mit einer angstvollen Gebärde machte sie ihre gefangenen Hände frei.

„Bitte, nicht böse sein,“ sagte sie heiser, „es kann nicht sein, was Sie wünschen.“

In Arnolds Gesicht schien eine Flamme zu erlöschen. „Es kann nicht?“ wiederholte er in rauhem Ton. „Sie haben mich lieb und es kann nicht sein? Wie in aller Welt soll ich das verstehen?“

„Hätten Sie sein Sterben mit erlebt, so verstünden Sie es schon. Sie starrte vor sich hin, ihre Finger wanden sich rastlos umeinander. Rettenbacher sah sie mit Besorgnis an, aber er sagte kein Wort, er wartete, ob sie weitersprechen werde.

„Sie müssen nicht denken,“ fuhr Hanna nach einer Weile mühsam fort, „daß ich allerwege nur zu bedauern gewesen wäre. Ich habe es nicht gut bei ihm gehabt – o nein – aber er bei mir auch nicht. Was ich verschuldet habe, das lastet auf mir, das kann ich nie mehr abschütteln. Und darum – darf ich auch nichts mehr vom Leben für mich verlangen –, auch wenn ich's noch wollte, auch wenn ich nicht so sterbensmüde wäre.

Arnold schüttelte ganz leise den Kopf. In seinem ernsten Gesicht stand jetzt nichts von Zärtlichkeit zu lesen er sah etwa so aus wie ein Arzt, der einen Schwerkranken vorsichtig beobachtet.

„Möchten Sie nicht versuchen,“ fragte er sanft, „sich einmal über diese Ihre ,Verschuldung' auszusprechen? Ich muß gestehen, ich kann mir kein rechtes Bild von ihr machen.“

Hanna antwortete nicht gleich. Aber er bedrängte sie nicht, er rührte auch ihre Hand nicht mehr an Ganz still saß er da und wartete.

„Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären,“ fing sie endlich, tiefer aufatmend und mit festerer Stimme wieder an. „Sehen Sie – es giebt zwei Arten von Geduld. Sie gleichen sich gar nicht. Aber zu Anfang sieht man das nicht. Vielmehr zu Anfang weiß man davon überhaupt nichts. Gewöhnlich erkennt man es erst, wenn's schon zu spät ist. Mir wenigstens ist es so ergangen. Die eine Geduld, die ist stumpfsinnige, die krümmt sich zusammen und macht die Augen zu, die würgt ihr Grauen und ihren Ekel in sich hinein, die nimmt alles hin, ohne sich zu wehren, und denkt dabei, mehr könnte man nicht verlangen. Das ist die blinde Geduld, die feige. So nenn’ ich sie. Die andre Geduld, die ist nicht darum still, weil sie stumpfsinnig ist, sondern weil sie sanftmütig ist und weil sie mitleidig ist, und weil sie denkt: Kehr’ auch vor deiner Thür, und weil sie zusieht, wie zu helfen ist, nicht nur zu ertragen und sie würgt wohl auch ihren Ekel und ihr Grauen hinunter, aber sie versucht, dabei zu lächeln, denn sonst hätte es ja keinen Sinn. Das ist die thätige Geduld, die mutige, die nicht müde wird. Sie, glaub’ ich, überwindet die andre nicht. Die andre aber hab’ ich in meiner Ehe geübt, und mit meiner stumpfsinnigen Feigheit hab’ ich meinen Mann unglücklich gemacht. Er liebte mich, obwohl er mich so viel quälte. Und mir graute vor ihm. Still halten, war alles, was ich fertig brachte. Ich hätte mehr thun müssen, ganz etwas andres. Aber als ich meinen Fehler einsah, da war es zu spät, da starb er. Und ich blieb zurück mit dieser Reue. Was das ist, solche Reue an einem Grab – das wissen Sie nicht.“

Sie schwieg erschöpft, bleich, mit zitternden Lippen. Rettenbacher sah sie in tiefem Mitleid an.

„Sie Aermste,“ sagte er leise –“ So glauben Sie also, wenn er diese Krankheit überstanden hätte und Ihnen erhalten geblieben wäre, Ihr Verhältnis hätte noch glücklich werden können?“

„Glücklich. Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Dazu paßten wir zu schlecht zusammen. Aber besser. Auch dies weiß ich nicht. Was weiß man, ehe es geschehen ist. Hätten Sie mich das an seinem Totenbett gefragt, ich hätte gesagt: Ja, ja. In jenen Tagen war ich ganz zerschmettert. Heute – daß sich noch manches hätte mildern lassen, glaub’ ich wohl. Obschon ich nicht wissen kann, wie mir zu Mute gewesen wäre, wenn er als der Alte wieder vor mir gestanden hätte. Es war der nahende Tod, denk’ ich mir, der ihn so weich machte. Und weil mir das

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