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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„In das einsame Haus“ – wiederholte er mit noch wenig Stimme, abgebrochen, gleichsam horchend, als brächte eine zurückkehrende Tonwelle die letzten Worte näher an sein Ohr, als verstünde er sie nun erst deutlich. „Wie kommt sie gerade dorthin?“

„Rein durch Zufall. Wie der oft so wunderlich spielt. Sie hatte an die Eltern ihrer Bertha geschrieben um zu erfahren, ob das Mädchen in Stellung sei und ob sie sie möglichenfalls wieder bekommen könne. Der Haushalt in der Tiergartenstraße wurde ja zu Januar aufgelöst. Sämtliche Dienstboten waren zu Weihnachten noch besonders reich beschenkt worden. Zum Abschied – es war schon mehr ein Trauerfest. Die Pauline heulte wie ein Schloßhund, und August ging herum, als sollte er geköpft werden. Alle haben sie an ihr gehangen. Aber sie konnte ja keinen von ihnen behalten, so wie sie ihr Leben nun eingerichtet hatte. Also die Bertha, wenn’s irgend zu machen war. Die Alten wohnten in Friedrichsfelde, das wußte Hanna noch und fragte dort an. Aber Krügers waren weggezogen, und so ließ die Antwort auf sich warten, weil der Brief ihnen nachschlich. Die bekannte Findigkeit unserer Post eruierte sie denn auch richtig in Nieder-Lehme, wo sie das bewußte Grundstück gepachtet hatten. Außer dem großen Garten gehört nämlich noch ein bißchen Land dazu. Dann hat der zweite Besitzer seiner Zeit auch ein kleines Stallgebäude hingesetzt. Da haben sie nun ein paar Schweine, Ziegen und Kaninchen drinne. Mit den Langöhrchen treiben sie Handel in der Gegend. Also die alte Krügern schreibt so und so, und die Bertha wäre bei ihnen, außer Dienst, weil sie ihnen in der Wirtschaft helfen müßte, und es würde wohl nicht gehen, denn jemand Fremdes annehmen, wenn man die eigene Tochter haben könnte et cetera, et cetera. Tags darauf kommt die Bertha selbst, weil ihr doch das Herz schwer war wegen der Absage. Sie erzählt, wie sie da draußen leben, und wie's bei ihnen aussieht, und daß sie im Sommer, wenn sich jemand fände, vermieteten. Mein Hannichen faßt einen raschen Entschluß – es kam ihr, sagt sie, wie eine Eingebung – fährt hinaus, sieht sich die Sache an und mietet stehenden Fußes den Alten die eine Wohnung ab. In der anderen, in dem scheußlichen, angeklebten Flügel nach vorne heraus, wohnen eben Krügers. Jede hat ihre eigene Küche mit allem Zubehör. Die Bertha ging so natürlich mit in Kauf, denn sie bleibt so den Alten auf diese Weise unbenommen. So hat sich die Geschichte zugetragen. Gelungen, nicht? Riesig billig wohnt und lebt sie nun da draußen selbstverständlich. Was sie zum Wirtschaften braucht, bekommt sie im Ort oder in Wusterhausen, zur Not in Berlin.“

„Und wie – lebt sie sonst?“ fragte Rettenbacher zögernd.

Günther zuckte die Achseln. „Kreuzfidel ist anders,“ antwortete er. „Wenigstens nach meinem Geschmack. Einsam, verdammt einsam. Gewissermaßen trostlos. Vielleicht, daß es im Sommer hübscher ist. Aber in unserm Klima ist der Sommer bekanntlich eine selten auftretende Jahreszeit. Sie sitzt da wie in der Verbannung. Aber sie wollte nichts davon hören, daß ich es gräßlich fand. Ihr wär’s recht so, sagte sie, für sie wär’s genau das, was sie sich gewünscht hätte, das letzte und einzige, was sie sich noch gewünscht hätte. Ihr Zufluchtsort. Schön brauchte er nicht zu sein, nur still.“

„Sie glauben also –“ begann Rettenbacher wieder mit bedeckter Stimme. Er sprach aber nicht zu Ende. Das Wort schien ihm zu versagen. Er griff nur mit unsichrer Hand nach einem Blatt Papier, das auf dem Tische lag, und drückte es in der Faust zu einem Klümpchen zusammen.

„Ja“, sagte Günther, heftig nickend. „Ich glaube, das meinte ich gerade, als ich vorhin sagte, sie wäre auch verrückt. Was es ist, das sie so – ich möchte sagen, so umsponnen hat, wie mit einem grauen Netz, ich weiß es nicht. Nach wieder leben wollen sieht mir ihr Gesicht nicht aus. Eher nach warten, bis es alle ist. Grüße hat sie mir auch nicht aufgetragen. Scheußlich deprimiert zog ich eigentlich ab. Unterwegs wurde mir aber dann besser zu Mute. Es giebt nur einen, der sie zur Vernunft bringen kann. Sie wissen, wen ich meine, alter Freund. Drum bin ich heute herauskarriolt, sowie ich mein Pensum hinter mir hatte. Ich sagte mir: Riskier’ dein Leben. Mehr wie sacksiedegrob kann er ja nicht werden, wenn du ihm zum drittenmal mit derselben Sache auf den Pelz gerückt kommst. Nur muß es ausgehalten werden, nur mußt du nicht beim ersten Wort in die Ecke fliegen, sondern standhalten, ihn niederschreien. Habe ich also gethan. Habe meine Mission erfüllt. Mir ist jetzt soweit ganz wohl. Wohler als Ihnen, wie mir scheint, Sie infamer, alter Schwarzseher. Oder was bedeuten diese nachdenklichen, diese abgründig dunklen Augen? Der Deibel soll Sie holen, wenn Sie jetzt noch keinen Mut haben. Was Sie vor fünf Jahren nicht konnten und durften, das können und dürfen Sie doch heute getrost, sollt’ ich meinen. Denn so weit kennen wir doch unsere Hanna Wasenius, daß sie ihrer Lebtage auf gebackene Lämmerschwänzchen und Lampreten nicht versessen gewesen ist, was? Und die Art, wie sie jetzt ihr Geld untergebracht hat, beweist denn doch wohl – Sie lächeln und schütteln den Kopf. Worüber? Beweist es etwa nicht – –“

Rettenbacher griff über den Tisch nach Günthers Hand und hielt sie fest. „Halt, halt,“ bat er mit einem herzlichen Blick. „Lassen Sie es gut sein. Hören Sie auf. Gegen wen verteidigen Sie denn eigentlich Ihren Schützling? Glauben Sie wirklich, Sie müßten mir erst sagen, wer sie ist?“

„Scheint bald so. Sie sitzen da und sagen kein Wort.“

„Kann ich denn? Sie sind ja ein Wasserfall, liebes Güntherchen. Sie schlagen jedes andere Geräusch tot. Und zweitens gehört Redenhalten nicht zu meinen Talenten, wie Sie wissen sollten. Besonders im Augenblick – –“

„Na gut. Das seh' ich zur Not noch ein. Ich nehme alles zurück. Also Sie haben Mut?“

„Freilich hab' ich Mut, Sie wilder Advokat.“

„Was wollen Sie also thun?“

Arnold stand auf. „Warten,“ sagte er tief ernst, „aber mit dem leuchtenden Ernst des frischen, freudigen Willens. Warten und ihr Zeit lassen! Sie nicht quälen, so lange sie noch so wund ist. Ihr zunächst die Einsamkeit vergönnen, nach der sie sich so sehr gesehnt hat. Nicht auf sie einreden, so lange sie noch schweigen will. Hoffen, glauben, daß die Natur als Nothelferin ihr Amt nicht versäumen wird.“

„Schön. Und dann?“

Rettenbacher wandte sich ab und trat ans Fenster. Wohl eine Minute blieb es ganz still im Zimmer.

„Ich sollte Sie nun vielleicht erst ein bißchen allein lassen, was?“ fragte dann Günther halblaut, mit einem treuherzig zärtlichen Lächeln, das der andre nicht sehen konnte.

„Bitte ja, – – ich wäre Ihnen sehr dankbar –.“ Es war kaum zu verstehen, so heiser und abgerissen kam es aus der zusammengedrückten Kehle.

Ganz sacht und ohne sich noch einmal umzuschauen, schlich der „wilde Advokat“ zur Thür hinaus.

„Ich glaube wirklich, das hab' ich ganz famos gedeichselt,“ sagte er eine Minute später im Wohnzimmer zu Grete, die in großer Sorge auf seine Rückkehr gewartet hatte. In kurzen Zügen, so kurz es ihm möglich war wenigstens, und in so knappen Umrissen als das leidenschaftliche Interesse der gespannt lauschenden Schwester zuließ, erzählte er nun den Lebenslauf dieser wehmütigen Liebesgeschichte, – in der von Liebe eigentlich noch gar nichts vorgekommen war.

„Sie ist sehr krank, das arme kleine Tierchen,“ schloß er seinen Bericht. „Nicht nur körperlich, was schon ganz genug wäre. Aber auch ihre Seele ist kaputt, und das ist schlimmer. Wenn nun der Arnold ihr nicht hilft, dann weiß ich nicht, was werden soll. Aber er wird ja doch wohl. Ich hoffe, übers Jahr sind wir schon ein ganzes Ende weiter. Elend freuen würde ich mich!“

„Gott, und ich erst,“ sagte Grete.

Günther hob aufhorchend den Kopf und sah sie an. Wahrhaftig, sie hatte Thränen in den Augen „Warum weinen Sie denn, liebe, gute, allerbeste Frau Zöllner?“

„Ach was,“ murmelte sie dunkel errötend und stand auf, lief auch aus der Thür, denn draußen hatte es heftig geklingelt. Natürlich war es der Hans.

„Viel länger als eine halbe Stunde bin ich weggeblieben,“ rief er. „Nun werdet ihr doch mit eurer Beratung fertig sein.“

Und verdutzt von einem zum andern blickend „Noch nicht?“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_846.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)