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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

das arme Gesicht, das gänzlich farblose, wie schmal war es geworden, gleichsam gestreckter, länger, an den bläulich schimmernden Schläfen eingesunken, um den festgeschlossenen Mund ein fremder Zug. Was war aus dieser zarten, lieblichen Blüte geworden! Ihre Augen konnte er nicht sehen, da sie den Blick zur Seite auf das kleine Kind gerichtet hielt, dessen reizend ungeschickten Bewegungen sie mit einer seltsamen, beinahe finsteren Aufmerksamkeit folgte.

Ich muß sie anreden, dachte Günther, dem wehmütig sorgenvoll zu Sinne war. Er trat langsam auf sie zu, mit dem unklaren Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, damit sie nicht erschrecke.

„Hannichen,“ sagte er halblaut, nahe vor ihr stehen bleibend.

Sie fuhr nun wirklich heftig erschrocken zusammen und wandte den Kopf. Jählings schoß helle Glut in ihr bleiches Gesicht und sank langsam wieder hinab.

„Güntherchen“, stammelte sie mit versagender Stimme und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie stark, durch den Handschuh fühlte er, wie kalt sie war.

„Wie geht’s Ihnen?“ fragte er bekümmert, verwirrt.

Sie antwortete nicht gleich. Mit einem Ausdruck scheuer Freude sah sie ihn an.

„Gutes, kleines Güntherchen,“ sagte sie dann leise, es lief dabei ein schwaches Lächeln um ihren Mund. „Sie sehen so aus, als wenn Sie noch ganz der Alte wären.“

„Bin ich auch,“ betonte er stark, er räusperte sich dann, um eine unbequeme Rauheit der Stimme zu verscheuchen „Aber wie es Ihnen geht, hab’ ich Sie gefragt, Hannichen.“

Ueber ihre schönen grauen Augen, in denen eben noch der Abglanz längst vergangener freundlicher Erinnerungen geleuchtet hatte, sank ein Schleier nieder; ihr Gesicht wurde still und kalt.

„Wie es mir geht?“ wiederholte sie gleichgültig. „Gut; wie denn sonst?“

„Na ja, danach sehen Sie mir auch gerade aus. Hannichen, reden Sie keine Sachen! Daß Sie krank sind, das kann Ihnen jeder Mensch auf dreißig Schritte Entfernung ansehen. Also, wo fehlt’s, was ist los?“

„Nichts ist los,“ versicherte sie mit einem nervösen Stirnrunzeln, „gar nichts. Ich war nicht ganz gesund, früher, aber das ist längst überstanden, ich bin jetzt vollkommen erholt.

„Wann sind Sie denn krank gewesen?“

„O – vor langer Zeit. Vor anderthalb Jahren.“

„Und dann sehen Sie heute so aus? Na, erlauben Sie –“

„Bitte,“ unterbrach sie rasch, „geben Sie dies Thema auf, es ist ganz zwecklos, darüber zu reden. Ich bin gesund und damit gut.“

Nach einem raschen Blick in der Richtung, von wo sie gekommen war, und nach einem Zögern, das in einem tiefern Atemzug endete, wies sie mit dem Schirmgriff den Weg hinunter und sagte entschlossen „Begleiten Sie mich noch eine Strecke! Oder haben Sie keine Zeit?“

„Aber selbstverständlich, Hannichen, was denken Sie denn? Wo ich Sie doch so endlos lange nicht gesehen habe! Mir zittert ja das Herz wie verrückt.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie mit sanftem Lächeln. „Sie sind wirklich noch der Alte. Ein anderer würde nicht mehr so freundlich gegen mich sein, nachdem – –“

„Ach, lassen Sie doch das, reden wir nicht davon. An Ihnen, Hannichen, zweifelt ja niemand, der Sie kennt“.

Sie nickte ihm nur schweigend, aber sichtlich dankbar zu.

„Erzählen Sie,“ sagte sie dann rasch, mit unklarer Stimme,. die plötzlich heiser zu werden schien. „Erzählen Sie.“

„Was denn, Hannichen?“

„Von allem, allem, was in dieser langen Zeit – in diesen Jahren – bitte!“

„Mit Vergnügen. Da wäre also – aber wie ist mir denn? So ganz ohne Nachricht können Sie doch nicht sein? Den Pastor sehen Sie doch zuweilen?“

„Selten. Sehr selten. Jetzt schon lange nicht mehr. Ich habe – kein sehr gutes Gewissen ihm gegenüber. Lassen Sie ihn. Ich weiß nichts. Erzählen Sie!“

Günther sah sie betroffen an. Diese rauhe Stimme und dieses blasse Gesicht mit den trockenen, bebenden Lippen, die wie verdurstet aussahen, diese geradeaus in irgend eine Ferne gerichteten, erst noch matten, jetzt wieder fieberisch glühenden Augen! Ach du lieber Gott, dachte er bekümmert.

„Ja, wo fang’ ich an,“ besann er sich laut, „wovon erzähl’ ich zuerst?“

„Der Chor zum Beispiel,“ sagte sie, noch in demselben heiseren, abgerissenen Ton. „Was singen Sie jetzt?“

„O, herrliche Sachen! Die Flügel sind uns in den Jahren gewachsen, sag’ ich Ihnen. Wir haben eigentlich vor nichts mehr Bange. An die schwierigsten Dinge gehen wir heran ohne Herzklopfen – als höchstens vor Freude. Sie hätten die Motette von Bach hören sollen, die wir dieses Frühjahr in unserem Wohlthätigkeitskonzert gesungen haben. Die große, wissen Sie, ‚Jesu, meine Freude.’ Ging famos! Mühe genug hat’s freilich gekostet mit der Einstudierung. Besonders der achte Satz mit dem figurierten Tenor. Sie erinnern sich doch? ‚Gute Nacht, o Wesen‘ –“

„Ob ich mich erinnere!“

„Und dann das ‚Salvum fac regem‘ von Becker.“

„Komponiert er noch so fleißig?“

„Noch? Wissen Sie das nicht? Hören Sie denn nichts?“

„Nein, ich höre nichts und weiß nichts. Erzählen Sie nur!“

Günther schüttelte den Kopf. „Becker,” fuhr er dann fort. „Ob er noch komponiert? Und wie! Das ist ein Kerl! Eine Musikseele von Himmelsgnaden. Den hat der liebe Gott aufs Herz geküßt. Das ‚Salvum‘ ist einfach großartig. Ein Doppelchor. Verlangt eigentlich einen ganzen Haufen Stimmen. Aber uns schreckt nichts mehr, als ob wir mindestens über hundert verfügten. Und sind doch nur unserer vierundfünfzig.“

„Also doch sehr gewachsen.“

„Sehr? In vier Jahren? Na, wissen Sie. Da sehen Sie sich mal andere Chöre an, die ihre Männerstimmen bezahlen können. Mit unsern freiwilligen Mitgliedern fristen wir denn doch nur kümmerlich unser Leben. Vierundfünfzig, na ja, es ist immerhin, gegen den Anfang gehalten, schon ganz nett. Schade nur, daß doch immer auch wieder für neue, die eintreten, gelegentlich alte abgehen. Dadurch wächst man so langsam. Wir wären sonst schon bedeutend mehr. Aber Sie haben recht, gegen die erste Zeit ist es ein hübscher Zuwachs. Gott, Sie haben ja noch geholfen, das Kind aus der Taufe zu heben. Quälen haben wir uns müssen, was? Insofern stehen wir ja jetzt glänzend da. Einen Tenor hab’ ich letzthin dazugekriegt – fein, sag’ ich Ihnen! Den sollten Sie mal in Mendelssohns Psalm hören: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‘ Der zweite Baß steht jetzt famos. Da sind kürzlich zwei abgrundtiefe Kerle eingetreten, die reinen Orgeln. Den ersten Baß führt nach wie vor der Rettenbacher mit seinem himmlischen Baryton.“

„Ist seine Stimme noch so schön wie früher?“ Hanna sprach es nur mühsam, die Kehle war ihr zugeschnürt. Das erste Mal, daß sie wieder von ihm sprach.

„Noch so schön? Viel schöner! Den hätt’ ich dem Stockhausen als Schüler gegönnt. Das wär’ so ein Material gewesen für seine herrliche Kunst. Ich thu mir auch nicht wenig auf ihn zugute. Und der Pastor, neulich, nach der Kirche, hat er den Rettenbacher umarmt und geküßt.“

„Was hatte er denn gesungen?“

„Den Bach: ‚In deine Hände befehl’ ich meinen Geist‘. Sie sollten hinkommen, Hannichen, und zuhören!“

Hanna antwortete nicht gleich.

„Glauben Sie, ich wäre nicht schon längst gekommen, wenn ich könnte?“ fragte sie dann leise. „Reden Sie davon nicht! Wie steht es mit den Frauenstimmen?“

„Gut. Der Alt ist sogar famos. Der Sopran – na, der hat sich lange Zeit nicht von seinem Verluste erholen können. Gerade, als wenn den andern die Courage ausgegangen wäre. Es war mir doch mächtig hart, Hannichen, Sie hergeben zu müssen.“

„So?“ sagte sie tonlos.

„Ja, mächtig hart, einfach scheußlich hart! Ich habe mich nur niemals zu Ihnen darüber aussprechen können. Was macht denn nun unser liebes Drosselstimmchen?“

„Nichts. Ich singe nicht mehr. Die Stimme ist weg.“

„Nein!“ sagte er erschrocken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_742.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)