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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

schon gethan. Ich habe keine Pflichten, ich versäume nichts. Sie ist ja tot, um die ich auf der Welt war!“

„Und Ihr Mann?“

„Er – –“

Sie stand auf, sie griff sich mit beiden Händen in den Nacken, abgewandt blieb sie stehen, ohne zu antworten.

Er rührte sich nicht, sah nur mit erschrockenem, betrübtem Gesicht zu ihr hinüber.

„Liebe Hanna,“ sagte er endlich leise und sanft, „liebt er Sie nicht?“

„Ja, er liebt mich,“ antwortete sie mit rauher Stimme, noch von ihm abgekehrt. „Gott sei’s geklagt, ja, er liebt mich!“

„Sie lästern, mein Kind,“ warnte er sehr ernst.

Nach einem schmerzhaften Zusammenziehen der Schultern wandte sie ihm langsam ihr traurig verstörtes Gesicht wieder zu, kam auch auf ihren Platz, neben ihm, zurück. Ein Weilchen saß sie dann noch mit gesenktem Kopf, die festverschlungnen Hände im Schoß.

„Darauf antworte ich Ihnen nicht,“ sagte sie endlich halblaut, ohne ihn anzusehen. „Verteidigen kann ich mich nicht, weil ich Ihnen nicht erklären kann – – ich klage niemand an, auch ihn nicht. Schweigen wir davon. Mir ist auch nicht zu helfen.“

Er nickte, seufzte dann leise. Nach einem Streifblick durch das im Rokokostil sehr üppig ausgestaltete Gemach, sagte er: „Also hier, nehme ich an, bringen Sie Ihre einsamen Stunden zu. Ihre arme Mutter hat diesen glänzenden Raum nie gesehen?“

„Nein. Natürlich nicht. Und auch ich habe ja eigentlich alle meine freie Zeit bei ihr drunten verbracht. Erst – seit sie fort ist, seit – die Thür verschlossen ist, sitz’ ich hier.“

„Thür verschlossen ist?“ wiederholte er verwundert.

Sie nickte, mit einem bittern, rasch verfliegenden Lächeln. „Er wird ja wohl wieder recht haben. Ein Abschnitt mußte gemacht werden. Also lieber gleich. Er ist sehr für das abgekürzte Verfahren. Und bei meiner Sentimentalität – was konnte er Gescheiteres thun, als kurzen Prozeß machen? Gleich nach dem Begräbnis! Wie gesagt, nun sitz’ ich hier. Vielleicht denkt er, ich sehne mich so weniger. Während ich –“ sie atmete tief, fast stöhnend – „wenn ich doch einmal wieder etwas anrühren könnte, was ihr gehört hat! Ihr Kleid, ihr weiches graues Kleid. Und ihren kleinen Kragen. Und ihre Schuhe. Sehen Sie – wie ein armer Hund, dem sein Herr gestorben ist, so möcht ich mich auf ihre Kleider legen und ihren Duft einatmen!“ Sie drückte die Hände vor das Gesicht und weinte jammervoll.

Stumm vor Erschütterung streichelte er sie leise über den Kopf.

„Nicht einmal ausräumen hab’ ich noch können, zum letztenmal,“ fuhr sie fort. „Ich bin ja so aus dem Zimmer gegangen, hinter dem Sarge her. Und als ich zurück kam, war die Thür schon zu. Ich glaube, er hat Bertha am andern Morgen noch einmal hineingeschickt, Ordnung machen, alles einpacken. Ich weiß nicht. Am Nachmittag, als ich nach ihr fragte, war sie auch schon fort, auch mir aus den Augen, auch der Erinnerung wegen. Kurzen Prozeß, kurzen Prozeß.

Ganz leise, aber unaufhaltsam, und trostlos weinte sie nun vor sich hin. Sie hatte offenbar vergessen, daß sie hart hatte bleiben wollen.

Erdmann ließ sie gewähren, hielt sie nur sacht um die Schultern gefaßt. Von Zeit zu Zeit schüttelte er nachdenklich und bekümmert den grauen Kopf.

Sie richtete sich endlich von selbst aus ihrer vornübergeneigten Stellung auf und trocknete das nasse Gesicht.

„O weh, meine roten Augen,“ sagte sie, noch heiser vom Weinen. „Das geht heute nicht gut. Aber einerlei. Ich bin so froh, daß Sie da sind, lieber Herr Pastor! Und daß ich einmal sagen kann, wie mir zu Mute ist. Immer schweigen, das hält der Mensch ja nicht aus. Und besonders schweigen und dabei nichts thun, als warten, bis der Tag um ist. Sehen Sie – ich tauge nicht zur Millionärin. Ich passe nicht in dieses üppige Haus. Ich tauge nicht zum Müßiggang. Ich müßte arbeiten um mich selber los zu werden. Ich müßte so viel zu arbeiten haben, daß ich nicht wüßte, wie ich damit zu Ende kommen soll. Ueberm Kopf müßte es mir zusammenschlagen. Todmüde müßt’ ich mich machen. Und auch – ich müßte jemand haben, für den ich sorgen könnte, für den ich mich tüchtig quälen könnte, für den ich mir Freuden ausdenken könnte, dem ich, so gut es eben gehen möchte, bei seinen Arbeiten, in seinem Beruf, helfen könnte. Was verstehe ich von dem Geschäft meines Mannes? Nichts. Er braucht auch meine sogenannte Hilfe gar nicht. Er braucht nur seinen klugen Kopf. Ich habe ja auch nicht nötig, etwas davon zu verstehen, daran liegt ihm gar nichts. Ich brauche nur fleißig sein Geld auszugeben. Das Geld, das ich mir nicht selber verdient habe, um das ich nicht den kleinen Finger gerührt habe. Das verhaßte, das teuflische Geld, für das ich meine ewige Seligkeit verkauft habe. Ja! ja, ja! Sehen Sie mich nicht so außer an, meine ewige Seligkeit. verkauft habe! – Und es hat eine Zeit gegeben, wahrhaftig, in der ich geglaubt habe, mich auf den Reichtum, der kommen sollte, zu freuen. Ich habe nicht gewußt, daß ich ihn für mich nicht brauchte, um froh zu sein. Ich habe nicht gewußt, daß er zum Fluch werden kann. Für meine Mutter hab’ ich zu diesem – diesem – Handel Ja gesagt. Für meine Mutter, weil man mir heilig versicherte, sie würde gesund werden, wenn sie keine Sorgen mehr hätte. Es war gelogen. Und alles ist umsonst geschehen!“

„Kind, Kind, Kind!“ sagte Erdmann, erschrocken über diesen leidenschaftlichen Ausbruch, über ihr bleiches, zuckendes Gesicht, in dem die Augen brannten.

Sie sah es und nahm sich sofort zusammen.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie, schon wieder sanft, mit einem schwachen weichen Lächeln. „Ich habe Sie betrübt. Das ist unrecht. Ich sollte so nicht reden, denn es nützt nichts, es bessert nichts.“

„Nein, das thut es auch nicht,“ erwiderte er sehr ernst. Aber, was viel wichtiger ist. Sie sollten auch nicht so denken. Nun sehen Sie mich an, als ob Sie fragen wollten. Wer verbietet mir das? Darauf antworte ich Ihnen: Ihre Mutter verbietet Ihnen das. Wie ich sie gekannt habe, in ihrer stillen Duldung, in ihrer Gerechtigkeitsliebe, weiß ich, was sie heute sagen würde, wenn sie Sie so reden hörte.“

„Sie hört’s aber nicht, lieber Herr Pastor,“ unterbrach ihn Hanna mit finsterm Lächeln.

Als hätte sie gar nichts gesagt, fuhr er ruhig fort. „Sie würde sagen: Ganz umsonst geschieht überhaupt nichts, mein Kind. Irgendwo sitzt ein Zweck, man muß sich nur die Mühe geben, ihn herauszufinden. Und an jedem Platz, auf den uns das Leben stellt, können wir irgend etwas thun, können wir uns irgendwie nützlich machen. Mach’ nur deine Augen auf. Steck’ nicht den Kopf in den Sand. Warte nicht ab, bis dein Lebenszweck sich bei dir meldet, sondern geh’ ihm nach, such’ ihn dir! – So ungefähr, denk’ ich mir, würde sie reden. Sie glauben das auch, nicht wahr? Klingt es Ihnen nicht, als ob sie zu Ihnen spräche? Ohne eine segensvolle Spur geht so eine Frau nicht durch das Leben. Ihre unsterbliche Seele, die läßt sie uns, mit der leben wir weiter.

„Lieber Herr Pastor! Ich möchte Sie nicht kränken, aber –“ Hanna drückte die Handflächen zusammen – „Sie – –“

„Ehe Sie weiter sprechen,“ sagte Erdmann, wie abwehrend den Finger hebend, „lassen Sie mich Ihnen den Spruch ins Gedächtnis rufen, den ich ihr mit ins Grab gegeben habe. ‚Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben.’ Hauptsächlich Ihretwegen, liebe Hanna, hab’ ich diesen Spruch gewählt. Hauptsächlich Ihretwegen die Sie ihn hören konnten. Das Andenken, das unauslöschliche Andenken dieser stillen, sanften, geduldigen Frau bleibt leben, steht den Uebrigbleibenden als ein milder Schutzgeist zur Seite. Ihrem Andenken zuliebe thut man, was ihr im Leben Freude gemacht hätte. Ihr Andenken sänftigt die Bitternisse, mildert die Wunden, erinnert an Vergebenes, giebt Mut zum Weiterwandern. Ihr ungetrübtes Andenken giebt Ruhe im Schlaf. Sie, mein Kind, brauchen nur zu wollen, so ist Ihre Mutter unsterblich.

Hanna war tief erschüttert. Sie beugte sich auf seine Hand und küßte sie, ehe er es hindern konnte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie leise. „Und verzeihen Sie mir.“

„Was, mein Herz?“

„Daß ich Sie bis jetzt so arg verkannt habe. Sie sind doch der rechte Priester. Sie sprechen mit jedem in seiner Sprache.

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