Seite:Die Gartenlaube (1897) 631.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

meiner Frau in Ihrem Kirchenchor; spitzen Sie sich nicht allzufest. Vor allen Dingen ist sie voraussichtlich zunächst nicht in Berlin, wenn Sie anfangen. Denn da es meiner Schwiegermama so gut geht, werden wir unsere Reise nach dem Süden, die erst für September geplant war, schon viel eher antreten. Sorgen Sie also beizeiten für Ersatz. Man kann nie wissen, wie alles kommt. „Aber – von dieser schnellen Abreise wissen wir ja noch kein Wort,“ sagte Hanna, aufs äußerste erstaunt.

„Ich habe sie auch vor einer Viertelstunde erst beschlossen, mein süßes Kind. Langatmige Pläne sind nicht meine Sache. Du würdest mich aber riesig verbinden, wenn du jetzt schleunigst vorwärtsmachen wolltest. Ich habe die Ehre, Herr Günther.“

„Er bleibt noch ein bißchen bei mir,“ sagte Frau Wasenius. „Wenn er Zeit hat?“

„Hab’ ich, Mamachen, gerne, wenn Sie erlauben.“

Thomas, schon zum Gehen gewendet, machte eine höflich zustimmende Bewegung über die Achsel zurück.

„Das ist recht,“ sagte Hanna rasch. „Bleiben Sie noch lange bei ihr, so lange Sie können. Und kommen Sie bald wieder, ja?“ Sie umschlang die Mutter und küßte sie zärtlich. „Auf Wiedersehen, mein Engel,“ murmelte sie nahe an ihrem Ohr. „Bis nachher. Ich werde alles schön finden, was ihm gefällt, dann geht’s schneller.“ – Und zu Günther mit einem gezwungnen Lächeln, das unbekümmert aussehen sollte: „Ueber das mit dem Singen reden wir noch. Adieu, adieu!“

17.

„Mutterchen?“

Alles still.

„Zweiäuglein, schläfst du? Zweiäuglein, wachst du?“

Hanna blieb auf der Schwelle zwischen Wohn- und Schlafzimmer stehen und lauschte noch ein paar Augenblicke in das dämmrige Gemach hinein, in dem die Vorhänge noch geschlossen waren.

Nichts rührte sich.

Von hier aus konnte sie das Bett nicht ganz übersehen. Die Thür stand nur halb offen, sie knarrte, wenn man sie bewegte. Also lieber nicht! Lieber noch ein bißchen schlafen lassen. Es war ja noch Zeit. Sie konnte auch erst ihre Vögel besorgen. Mittlerweile wachte die Mutter dann wohl von selber auf. Das Gezwitscher und Geschmetter mußte sie ja wecken. – –

Doch noch nicht?

Immer noch still da drinnen? Hanna beugte sich vorsichtig etwas um die Thür herum. sie konnte aber nichts erspähen als eine still auf der Decke ruhende Hand.

Also erst noch die Blumen.

Dann aber mußte Ernst gemacht werden. Sonst kam Ludwig, ehe sie fertig waren, und das war der Mutter unangenehm. Sie ließ ihn nicht gerne warten. Er vertrug das Warten auch nicht.

Was lagen denn da für Rosen auf dem Frühstückstisch, an ihrem, der Mutter, Platz? Drei blasse, zarte Rosen, zusammengebunden. Ein Kärtchen daneben.

„Arnold Rettenbacher sendet erfreut Gruß und Glückwunsch zum Beginn der Genesung.“

„O,“ sagte Hanna, mit weichem Lächeln, leise. Dann ist also dieser gute, kleine Günther noch gestern nachmittag zu ihm gelaufen, um es ihm zu erzählen. Und er hat dieses heute früh auf dem Wege zur Schule hier abgegeben. Das bring’ ich ihr ans Bett. Damit wecke ich sie.

„Mein Mutterliebchen, jetzt kann ich dir nicht mehr helfen. Wie schläfst du aber heute auch fest!“ Hanna stand an dem Bett. In diesem Dämmerlicht nach der Sonnenhelligkeit da draußen unterschied sie nicht deutlich das liebe Gesicht. Sie beugte sich nieder.

Wie lautlos, wie unmerklich ging dieser Atem. Wie still lag sie da, tief in den Kissen, bleich, der schmale Kopf müde zur Seite gesunken, regungslos.

Hanna beugte sich tiefer hinab.

„Mutter“ – sagte sie entsetzt, heiser, von einem jähen, fürchterlichen Zittern überfallen; sie griff nach der still ruhenden Hand – der schweren, todeskalten – –

„Mutter“ –

Und noch einmal, laut, verzweifelnd aufschreiend „Mutter“

Dann nichts mehr.

Ja, sie schlief heute fest.

Gar, gar zu fest. Kein Rosenduft weckte sie mehr, kein Vogelzwitschern, kein Rufen. Eingeschlafen, heimlich, mitten in tiefster, dunkler Nacht, unbewacht, stumm, ohne Abschied. –

Hannas Aufschrei war draußen gehört worden. Bertha kam eiligst ins Zimmer und sah ihre junge Herrin zusammengeknickt, regungslos, tief über die schlafende Frau gebeugt.

Die schlafende – –?

„Allmächtiger Gott!“ kreischte das Mädchen und prallte zurück, rannte zur Thür hinaus auf die Treppe und erfüllte das Haus mit Hilferufen. Die Dienerschaft lief erschrocken zusammen. Fragen, Durcheinander, Thürenschlagen, August allein blieb besonnen. Er lief ans Telephon und benachrichtigte den Sanitätsrat, der sofort zu kommen verhieß. Dann eilte er die Treppe hinauf zum Schlafzimmer seines Herrn, der durch die Unruhe im Hause schon gestört worden war und das schnelle, kräftige Klopfen des Dieners ärgerlich beantwortete.

Auf den Bericht, es scheine mit der Frau Doktor zu Ende zu sein, war er dann freilich mit einem Satz aus dem Bett und, ohne ein Wort zu verlieren, im Umsehen in den Kleidern.

Drunten hatte sich mittlerweile Bertha wieder in das stille, dämmrige Zimmer hineingewagt, während die andern Dienstboten ängstlich zusammengedrängt in einer flüsternden Gruppe im Wohnzimmer stehen blieben. In Thränen aufgelöst sah sie scheu von der Thür aus nach ihrer armen jungen Frau, die immer noch tief über die Mutter hingebeugt kauerte, die vorgestreckten Hände in die Kissen vergraben, als sei sie so zu Stein erstarrt.

Thomas trat jetzt hastig ein. Nach einem Schnellen Rundblick befahl er mit gedämpfter Stimme dem weinenden Mädchen:

„Machen Sie hell! Gardinen zurück! Fenster auf!“

Goldig strahlend flutete das Morgensonnenlicht zum Zimmer herein. Sommerherrlichkeit jubilierte draußen mit Vogelstimmen, atmete Blütenduft und webte in Glück und Daseinsfreude.

„Komm, mein armes Herz,“ sagte Ludwig so sanft er konnte. Er schlang den Arm um den hingesunknen Leib seiner Frau und hob sie in die Höhe. Mit scheuer Ehrfurcht streifte dabei sein Blick das Gesicht der Toten, das in seiner starren, wächsernen Ruhe so unbarmherzig weiter schlief.

Hanna zuckte zusammen und sah sich um. Sie griff nach der Hand, die sie emporzog, und wand sich los. Thomas erschrak vor dem gottverlassen öden Blick der ihn aus ihren Augen traf. „Ich bitte dich,“ sagte er halblaut, erschüttert. „Hanna!“ Er versuchte aufs neue, sie zu umschlingen.

Aber sie stemmte die flachen Hände gegen seine Brust und schob ihn weg. Ihre Lippen zuckten, doch blieben sie geschlossen. In ihren Augen lag eine solche Gewalt todwunden Jammers, daß er mutlos davor zurückwich und sie freigab.

Sie brach dann mit einem dumpfen Stöhnen an dem Bett in die Kniee, den Kopf neben die tote Mutter aufs Kissen gebettet. Schauer liefen über sie hin. Sie weinte nicht, es war nur ein tiefes, anhaltendes Röcheln, das dem Mann wie mit Zangen ans Herz griff. Er zog einen Sessel heran und ließ sich dicht am Bett darin nieder. Zu berühren wagte er das arme zitternde Geschöpf nicht mehr.

So gingen die Minuten hin, die ihm die längsten seines Lebens dünkten, und wie eine Erlösung begrüßte er das Erscheinen des Sanitätsrats, der auf die Schreckensnachricht hin wie er ging und stand, aufgebrochen war. Mit einer fast zornigen Bewegung seiner ratlosen Bekümmernis bat Thomas, aufspringend und ihm entgegeneilend, den alten Herrn um Hilfe in dieser ersten schweren Not.

Auf sein halblautes: „Was machen wir nur mit ihr?“ antwortete der Doktor, nach einem kurzen Blick auf Hanna, noch gedämpfter: „Am besten wäre ich zunächst mit ihr ganz allein.“

Und die immer noch vor sich hinweinende Bertha zur Thür hinausschiebend wandte er sich mit einer verabschiedenden Handbewegung zu Thomas. „Sorgen Sie, bitte, für unbedingte Ruhe in der Umgebung dieses Zimmers.“

Leise setzte er sich dann am Bette nieder.

Mit dem gelassenen Blick des erfahrenen Arztes, dem kein Totengesicht mehr neue Geheimnisse erzählt, betrachtete er eine

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_631.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)