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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

glückt es uns ja, zum ersten mal von dieser Wohnung loszukommen, und – da wir uns dann doch trennen müssen, so ist es wohl gut, wenn Sie sich auch beizeiten –“ nun stockte sie doch.

Aber er unterbrach sie auch schon mit einer aufzuckenden Handbewegung. „Wir wollen doch, bitte, jetzt nicht von mir sprechen,“ sagte er, fast tonlos heiser. Und nach einer kleinen Pause: „Ich bin so erschrocken über diese Geschichte, daß mir die Worte fehlen. Halten Sie das nicht für Teilnahmlosigkeit.“

„Ganz gewiß nicht,“ sagte Frau Wasenius warm und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie an seinen Mund.

„Wie heiß Ihre Lippen sind,“ sagte sie unruhig. „Fühlen Sie sich krank?“

„Keine Spur. Etwas übernächtigt. Ich schlief spät ein, hatte noch lange zu thun. Und dann – ist mir doch – diese Sache eben in die Glieder gefahren. Also keine Hoffnung?“

„Gar keine,“ antwortete Hanna. „Herr Thomas, ‚unser Banquier’ – um ihn so zu nennen –, der stets diese Geldangelegenheiten für uns besorgt hat, hat uns geschrieben, daß Betrügereien, Unterschlagungen sehr umfangreicher Art entdeckt worden sind, ganz plötzlich entdeckt worden sind. Der eine Teilnehmer, eben der Uebelthäter, hat sich geflüchtet, als er sich nicht mehr halten konnte. Nun ist der Konkurs über die Fabrik verhängt. Es sind noch viel mehr Menschen zu Schaden gekommen als wir. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber freilich, jeder denkt, ihn trifft’s am härtesten.“

Sie seufzte leise, aber sie lächelte auch schnell wieder der Mutter zu, die mit ihren verängstigten Augen der Tochter die Worte von den Lippen las. „So lange es nur Geld ist, Mutterliebchen, um das man sich grämt,“ sagte sie tröstend, „so lange ist man noch besserungsfähig. Laß uns nur erst das Aergste überwunden haben, den Auszug hier aus unserm alten Nest; in dem neuen da irgendwo weit draußen, mitten in der Natur, will ich’s dir dann auch schön behaglich machen.“

Sie sah Rettenbacher immer noch nicht an. Sie wagte es nicht. Sie durfte nicht schwach werden. Nun sie auseinandergingen, mußte sie ihr Geheimnis um so sorgsamer hüten.

Eine Weile blieb es nun still, dann hob der junge Mann den Kopf. „In dieser kurzen Zeit können Sie natürlich noch keine Einzelheiten in Erwägung gezogen haben,“ fing er wieder an, seine Stimme hatte noch immer keinen eigentlichen Ton – „ich hoffe, Sie werden mir erlauben, Ihnen behilflich zu sein, wo es nur immer möglich ist.“

Er sagte es zu Hanna, die er dadurch zwang, ihn anzusehen. Sie that es, indem sie ihm freundlich zunickte. Beide beherrschten sich vortrefflich, keines erfuhr von dem andern, wie elend ihm zu Mute war. Die Armut nährte aus ihren kärglichen Mitteln den Stolz, den die beiden armen Wichte brauchten, um sich selbst und einander vor der eignen Schwäche zu bewahren.

„Zum Beispiel,“ fuhr Rettenbacher fort, „könnte ich zum Hauswirt hinuntergehen und an Ihrer Statt mit ihm verhandeln.“

„Nein,“ sagte Hanna, „ich danke Ihnen. Aber gerade das muß ich selbst thun – ich gehe doch auch schon in Vertretung, an Mutters Statt. Ich hoffe ja viel von seinem guten Willen. Von dem hängt freilich alles ab. Denn von Rechts wegen könnten wir ja eigentlich erst im Oktober zum April kündigen. Aber wenn ich ihm klar mache, daß wir ihm die Miete nicht mehr zahlen können, so wird er wohl in Anbetracht unsrer alten ‚Freundschaft’ – sechsundzwanzig Jahre, denken Sie doch, ein menschliches Rühren fühlen. Für dieses Vierteljahr ist schon bezahlt. Aber der erste Juli – der liegt mir im Nebel. Uebrigens, fügte sie helleren Tones hinzu, mit einem Blick auf das Gesicht der Mutter, in dem die Farbe kam und ging – „darüber wollen wir uns den Kopf in diesem Augenblick nicht zerbrechen. Heute ist Sonntag. Heute soll auch Sonntag bleiben. Nichts von Geschäften mehr! Das – Nothwendige ist geschehen. Alles andre fängt erst morgen an.“

„Du vergissest,“ wandte Frau Wasenius ein, „daß sich Herr Thomas auf heute vormittag angemeldet hat.“

„Richtig – den hatte ich vergessen. Aber ich denke, er wird nicht lange bleiben. Helfen kann er uns nicht. Was soll er also hier?“

Sie war aufgestanden und hatte die Tassen und Teller auf dem Theebrett zusammengestellt, um sie hinauszutragen. Rettenbacher öffnete ihr die Thür und kehrte dann auf seinen Platz am Tisch zurück. Gegen seine Gewohnheit, er pflegte sonst gleich nach dem Frühstück zu verschwinden, auch am Sonntag.

Frau Wasenius, die sich nach der Peinlichkeit der ersten Eröffnung nun gefaßt hatte, sah mit liebreichem Blick in sein blasses Gesicht. Als er sich dann neuerdings, offenbar völlig geistesabwesend, niedersetzte, sagte sie mit ihrer sanften, weichen Stimme, die ihm schon manchmal wohlgethan hatte. „Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, wie schwer uns der Entschluß geworden ist, lieber Rettenbacher. Ich meine das mit unsrer Trennung. Der Gedanke war mir anfangs gar nicht einmal gekommen. Erst, als wir uns heute früh darangaben, ein bißchen auszurechnen, wie der Rest einzuteilen wäre, da wurde mir klar, daß es für uns unmöglich ist, zusammenzubleiben. Wir müssen einen abgelegenen, recht anspruchslosen Platz suchen. Und da ich nicht in Berlin bleiben kann, ich meine, hier in dieser alten, lieben Wohnung, so ist mir der Gedanke, irgendwo weit draußen in so einer Art von Dorf zu wohnen, ganz recht. Meine arme Hanna – für die hätt’ ich mir freilich ein anderes Los geträumt. So, im Kampf mit der Armut, als Pflegerin ihrer krüppelhaften Mutter – eine traurige Jugend!“

Sie schwieg eine Weile; er störte sie nicht darin. Wieviel er von dem Gesagten vernommen hatte, war ihm nicht anzusehen. Frau Wasenius hatte aber wohl keine Erwiderung von ihm erwartet.

„Ich sehe auch keinen Ausweg,“ fuhr sie fort zu sprechen, aus ihrem trüben Sinnen heraus. „So lange sie noch mit mir behaftet ist, bleibt sie an den Fleck gefesselt. Und wenn ich einmal tot bin – was macht sie dann, angesichts der Mittel, die ihr zur Verfügung bleiben? Gesellschafterin launenhafter Leute muß sie werden. Stütze der Hausfrau. Sich hudeln lassen. Zur Lehrerin taugt sie nicht. Abgesehen davon, daß sie ja gar kein Examen gemacht hat. Mein Mann wollte es nicht. Sie kann’s nicht, sagte er, sie hat das Zeug nicht dazu, schlechte Lehrer giebt’s genug. Er wird wohl recht gehabt haben. Aber mit dem bißchen Handarbeitsunterricht und dem Arbeiten für Geschäfte kann sie ihr Leben nicht fristen. Das giebt nur einen notwendigen und angenehmen Zuschuß. Also irgend eine Stellung als Dienende ist das einzige, was ihr bleibt, meinem stolzen, fröhlichen Mädchen!“

Sie schwieg wieder, aber vor Schreck. Sie hatte in ihrem halblauten Vorsichhinsprechen den aufgestützten Kopf gesenkt gehalten und ihn erst bei den letzten Worten wieder erhoben. Nun sah sie Rettenbacher an, sah in sein gequältes, zusammengezogenes Gesicht – und erriet alles. Gott im Himmel! dachte sie erschüttert. Und gleich darauf. Wie habe ich das nur bis jetzt übersehen können! So leidet er ja nicht erst seit heute. O du Armer! Aber still, nicht daran rühren. Nichts merken lassen! Auch Hanna nichts merken lassen! Schützen, diese Wunde!

„Ich verdiene Strafe,“ sagte sie mit einem frischen, gehobenen Neuklang der Stimme, der ihn auch wirklich weckte. „Ich sollte ja nicht grübeln. Auf allerhöchsten Befehl sollte ich ja den Feiertag heiligen und all dieser Trübsal zum Trotz an gute Dinge denken. An andre wenigstens. Das will ich auch! Sie sollen mir von zu Hause erzählen, gestern kam doch ein dicker Brief. Wie geht’s denn dort?“

„Ganz gut soweit, ich danke,“ gab er zur Antwort. Er faßte sich nun gewaltsam, es gelang ihm auch. Er stand aber auf, als er Hannas Stimme auf dem Vorplatz hörte. „Sie gestatten mir wohl, mich zurückzuziehen. Ich muß notwendigerweise an die Arbeit. Ich habe mich schon zu lange verweilt. Den Brief lasse ich Ihnen da.

Er nahm ihn aus der Brusttasche und legte ihn auf den Tisch. Es schien ihm dann wieder ein Bedenken zu kommen, denn er griff noch einmal danach, aber in dem verlegenen Gefühl, daß er mit dem Zurücknehmen eine Unzartheit begehen würde, ließ er ihn wieder los.

Hanna trat ein. Sie hatte sich draußen zu schaffen gemacht, hatte sich tüchtig gerührt und den schmerzenden Kopf gezwungen, sich auf die „laufenden Tagesgeschäfte“ einzustellen. Rote Wangen hatte der gut geschulte Wille noch nicht erzwingen können, aber doch die heitere, unbefangene Miene, mit der sie nun hereinkam

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_538.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)