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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Rettenbacher hatte ihm, während Hanna mit Helene sprach, dabei geholfen. Jetzt wandte er sich zu ihr zurück.

„Ja, also Erdmann kommt mit,“ sagte sie, ehe er noch einmal fragen konnte. „Wir sollen ihn an der Sakristeithür erwarten, hat Müller bestellt.“

„Nun, dann müßten wir aber hinuntergehen, find’ ich. Er hat doch schon während des Liedes Zeit gehabt, sich umzuziehen. „Wollen wir auch. Haben Sie Ihre Noten beisammen, Güntherchen?“

„Zu Befehl. Ich bin bereit.“

Linde, weiche Luft empfing die Heraustretenden wohlthätig nach der dumpfig kühlen Kirchenatmosphäre, die um diese Zeit noch nicht genügend von der Sonne durchwärmt war. Mit Heizen hatte man schon aufgehört. Der Frühling war ja da. Und nicht nur im Kalender.

Hanna that einen tiefen Atemzug und legte lächelnd den Kopf in den Nacken. „Ah! Das thut gut! So einen Abend laß ich mir gefallen! Nehmt nur eine ordentliche Lunge voll von dieser Luft mit nach Hause, ihr Herren! Besonders Sie, Herr Rettenbacher. Es wird Ihrem Paulus zu gute kommen.“

„Meinem Paulus.“ Der junge Mann lächelte, was sein blasses, blondbärtiges Gesicht, dem die Ueberarbeitung aus den schwermütigen Augen schaute, merklich verschonte. „Ich wittere was von argen Ränken! Er zog ein wenig an den beiden großen Büchern, die Günther unter dem Arm hielt, um die Titel auf den Rücken zu lesen. Das Bündel Notenblätter, in einem Umschlag aus blauer Pappe, hatte er ihm schon oben abgenommen.

„Elias auch“ rief er heiter entrüstet. „Sie scheinen’s ja gut vorzuhaben heute abend.“

„Hab’ ich auch,“ versicherte Günther vergnügt. „Die Seele aus dem Leibe wollen wir uns musizieren. Nur keine Müdigkeit vorschützen, Magisterchen, oder vielmehr, wollt’ ich sagen, nicht von ‚Hefte korrigieren’ reden und so was!“

„O nein, das thut Herr Rettenbacher nicht mehr,“ beruhigte Hanna. „Er weiß schon, daß all diese profanen Dinge an unserm Samstagabend verpönt sind.“

„Jawohl,“ nickte er, „der Samstagabend ist mein Sonntag.“

„Es ist übrigens ein Brief von zu Hause für Sie gekommen,“ berichtete Hanna. „Ich hab’ ihn mitten auf Ihr Pult gelegt. Ein dicker Brief. Da ist sicher wieder so eine Brüderchen-und-Schwesterchen-Epistel drin.“

Jetzt öffnete sich die Seitenthüre der Kirche und Pfarrer Erdmann trat heraus, noch den Hut in der Hand. Sein langer, schwarzer, bis unter das Kinn zugeknöpfter Rock kennzeichnete immer noch den Geistlichen. Auch sein glattrasiertes, sanft rötlich überhauchtes Gesicht mit den weichen, etwas verschwommenen Zügen, den vollen, sehr beweglichen Lippen verleugnete den Priester nicht.

Er ging jetzt in eifrigem Gespräch neben Günther der Wohnung Hannas zu. Die beiden jungen Leute folgten. Anfangs hatten sie noch einige Bemerkungen ausgetauscht, daß das Osterfest sich diesmal so tief in den April hineinschöbe, in diesem frühlingsseligen, unverdient schönen April, und daß in der nächsten Chorprobe die Karfreitagsmotette von Franck noch gründlich durchgenommen werden müsse. Dann waren sie wieder verstummt, wie schon manchmal in der letzten Zeit, wenn sie zu zweien waren.

Rettenbacher blickte nach einer Weile von der Seite her auf seine Begleiterin, während sie so still nebeneinander weitergingen. Da er größer war als sie, konnte er ihre geradeaus schauenden, von dem breiten Hutrand beschatteten Augen nicht sehen, nur ein wenig vom Mund, die weiche Wange und das kleine rosige Ohr, und im Nacken die Last des in Zöpfen aufgesteckten dunkelblonden Haares. Ihre „einzige, unbestreitbare Schönheit“, wie sie selbst fröhlich zu versichern pflegte.

Von allem andern weiß sie nichts, dachte Rettenbacher. Auch von dem nichts, was daraus werden muß, wenn man das tagaus tagein vor Augen hat. Hört sie nicht, was da so laut spricht, wenn wir schweigen? Ist sie so arglos? Oder so klug? Für mich mit? – Er drückte die Lippen fester zusammen und wandte den Blick zur Seite. – „Klug“ war er selber. Die Augen thaten ihm weh von der unbarmherzigen Helligkeit, in der er die Zukunft liegen sah. Für die Schwäche unmännlich träumerischer Hoffnung, in der er sich gelegentlich zurief: Grüble nicht, es kommt doch alles anders! hatte er sich noch stets selber ausgelacht. Wohler war ihm über dem Lachen freilich nicht geworden. Aber es gehörte sich so, daß man den romanhaften Unfug nicht Herr über sich werden ließ. Und was sie auch fühlen mochte, die Schweigsame da an seiner Seite – von ihm sollte ihr keine Unruhe kommen! Es wäre ja auch für die Güte der alten kranken Frau ein schlechter Dank gewesen.

„Ja, übrigens,“ sagte er, nach dieser langen Pause mit noch etwas umflorter Stimme, „ich habe also heute in Ihrem Auftrage wegen des Stuhles mit den Leuten abgeschlossen, Fräulein Hanna. Der Preis ist fest vereinbart. Wenn Sie mir also gelegentlich das Geld übergeben wollen, so kann das Ding übermorgen – morgen ist ja Sonntag – gebracht werden.“

„O, wirklich“, sagte das Mädchen und sah lächelnd zu ihm auf. In der Tiefe ihrer Augen schwamm leise ein Glanz in die Dunkelheit zurück, aus der er, aller tapferen Bekämpfung zum Trotz, doch einmal wieder fragend und sehnsüchtig aufgetaucht war.

Er sah den schwindenden Schimmer nicht, mit seinem trockensten Schulmeistergesicht schaute er gerade vor sich hin.

„Ich danke Ihnen sehr,“ fuhr Hanna fort, „daß Sie so schön für mich unterhandelt haben. Aber das Geld will ich nun schon selbst hinbringen. Sie sollen sich jetzt nicht weiter bemühen –“

„Das geht nicht,“ unterbrach Rettenbacher sie hastig, in seinem Gesicht stieg eine schwache Röte auf. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß die Feststellung des Preises eine persönliche Sache zwischen mir und dem einen Geschäftsinhaber ist. Eine Gefälligkeit, diese Preisermäßigung, weil ich ihm seinen faulen Lümmel von Sohn durchs Examen geschleppt habe. Es muß aber unter uns bleiben, hat er gesagt. So muß ich auch ihm persönlich die Summe aushändigen, verstehen Sie?“

„Aber Ihre Zeit!“ wandte Hanna ein. „Das ist doch ein weiter Weg.“

„Ich habe dort in der Nähe eine Privatstunde zu geben, da mache ich das im Vorbeigehen ab. Von Zeitverlust ist keine Rede.“

Hanna sah mit zweifelndem Lächeln an ihm hinauf. „Ist das auch wahr?“ fragte sie. „Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie manchmal schrecklich lügen.“

„Das thun viele Leute,“ gab er trocken zurück. „Es kommt nur darauf an, zu welchem Zweck. In diesem Falle aber kann ich mich zu Ihrer Beschämung rechtfertigen. Da sehen Sie her“. Er zog sein Taschenbuch heraus und wies auf einen über zwei Seiten weggeführten Stundenplan. „‚Montag nachmittag viereinhalb bis fünfeinhalb Wilfried Leonhardt, Friedrichstraße 20, Latein‘. Zufrieden? Ueberzeugt? Komme ich da nicht buchstäblich vorbei?“

„Ja,“ sagte Hanna, „dagegen läßt sich nichts einwenden. Aber ich finde es rücksichtslos von Wilfried Leonhardt, daß er so weit weg wohnt. Können Sie sich solchen Jungen nun nicht ins Haus kommen lassen?“

„Diesen nicht. Der arme Kerl hat das Bein gebrochen und liegt in Gips. Um in der Schule nicht zu weit zurückzubleiben, bekommt er alle Nachmittage ein bißchen Privatunterricht. Er wohnte früher hier in der Nähe und aus Anhänglichkeit an unsre Schule macht er täglich mit der Pferdebahn den weiten Weg. Beim Abspringen von einem fahrenden Wagen hat er sich die Geschichte zugezogen. Ich hab’ ihn gern, den wilden Schlingel. Es ist so viel Lebensfreude in ihm. Einer von denen, die einem das Handwerk lieb machen.“

„Lieb machen! Als wenn Sie es nicht auch ohne Wilfried Leonhardt schon geliebt hätten.“

„Das schon. Aber so ein paar frische Tautropfen sind auch nicht zu verachten. Schon weil sie selten sind. Staub schluckt man ja nebenher genug.“

Hanna lächelte nachdenklich. „Schade, daß Sie meinen Vater nicht mehr gekannt haben. Wie oft hab’ ich das schon gedacht! Der that auch zuweilen, als hätte er den Schulstaub satt bis oben hin. Es war aber nicht so arg. Manchmal, wenn ‚er heimkam, müde, abgeärgert, und seine Hefte auf den Tisch warf und knurrte. ‚Infame Kerls! Dynamit unter die Bande!‘ und ich ihm dann brummen half, damit er leichter damit fertig würde, und sagte: ‚Hast recht, Vater, sie taugen alle nichts‘ – dann hielt er gleich inne und guckte mich über die Brille weg strafend an. ‚Das hast du dumm gesagt, mein Kind. Manche taugen

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