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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)


 Erste Schuld.

Den Stachel schmerzlichster Erinnerungen
Weckt mir ein Lied, das von des Tannichts Krone
In silberhellem, lautem Jubeltone
Erstmals an mein entzücktes Ohr gedrungen.

O Drosselsang! Oft bist du mir erklungen
Seit jener Zeit, doch nicht zu süßem Lohne –
Als ob ein Strafgericht dir innewohne,
Hast du mich stets zur Reue nur gezwungen.

Denn damals war ich auf den Baum geklommen
Und hatte keck – umsonst, daß ich’s verhehle! –
Dem Elternpaar die junge Brut genommen.

Seitdem mahnt jede frohe Drosselkehle
Mich an die Stunde, da zu Fall gekommen
Die noch von keiner Schuld befleckte Seele.
 Otto Braun.


Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

      (Schluß.)

Alban Hartlaub ist in jener Nacht weiter gezogen und am folgenden Tage und viele Jahre hindurch, weit über Land und Länder. Sein rasch gesundeter Arm hätte ihm gestattet, schon am nächsten Morgen zu schreiben, doch er hat’s nicht gethan.

Wie nach dem Gefecht im Schwarzwald war er unter der Linde aufgestanden von einer Kugel getroffen, nur diesmal ins Herz. Darin hatte sie etwas getötet, das kein Leben wieder fand, doch sein Körper lebte fort und verlangte nach dem, dessen er bedurfte.

Der junge Philologe trug ein Wissen und Können in sich, das ihm auch in der Fremde Sicherung seines Daseins gewährte. Gleichgültig erfaßte er was sie ihm darbot; wie der Naturtrieb einen Verhungernden die Hand nach einer dürren Frucht am Wegrand strecken läßt, nahm er in einer schweizer Stadt eine Lehrerstelle an. Das Glück begünstigte ihn und er war tüchtig; was in ihm schmerzte, mühte er sich, unter rastloser geistiger Thätigkeit zu vergessen. Es gelang nicht, aber er klammerte sich an die Arbeit, hielt sich an ihr aufrecht und sie ward ihm zur hilfreichen Freundin.

Ein Mann von ungewöhnlich gewinnender Erscheinung war er; die auf ihn gerichteten Blicke der Frauen und Mädchen bezeugten es. Seine Vergangenheit als „Achtundvierziger“ umgab ihn mit einem romantischen Nimbus, sein still in sich gekehrtes Wesen übte besonderen Reiz. Er erteilte der Tochter eines reichen Hauses Unterricht, und ihm konnte nicht verborgen bleiben, daß sie mehr und mehr eine wärmere Empfindung für ihn hegte. Sie war schön und von feiner Bildung, das Verhalten der Eltern ließ keinen Zweifel an ihrer Zustimmung, eine glänzende Lebensaussicht breitete sich vor ihm aus. Doch eines Tages blieb er fort; statt seiner teilte ein Brief mit, daß er eine ihm gebotene Stellung in Italien angenommen habe und sie sogleich antrete. Das war der Wahrheit gemäß; rasch hatte er den Entschluß gefaßt und verließ noch am Abend die Stadt. Nur begab er sich noch nicht wirklich auf die Reise, erstieg vielmehr am nächsten Morgen einen der hohen Vorgipfel der weißen Firnzacken. Als er droben stand, dehnte sich unermeßlich unter ihm die Weite bis zu den bläulichen Höhen des Schwarzwaldes, langhin zog sich des Bodensees schimmernde Fläche. Alban suchte mit einem Fernrohr, da trat etwas schmal und schattenhaft aus der Ebene sich Erhebende ihm ins Sehfeld. Das war der Turm, in dem er drei Tage lang verweilt; vor den Augen stand ihm, wie wirklich gesehen, der Glockenraum, und er saß droben, auf dem Balken unter sich hinabblickend, wo an einem schaukelnden Seil ein Gesicht sich zurückbog, aus dem blauer Edelsteinglanz heraufleuchtete. So lange schaute er hin, bis vor dem ermatteten Auge alles formlos verschwamm, dann stieg er wieder den Berg hinunter. Und weiter zog er dem neuen Ziel in der Fremde entgegen, doch gleich seinem Schatten ging mit ihm sein Leid.

Und es verließ ihn nicht, Raum und Zeit hatten keine Macht darüber. Wohl brachte die Erfüllung der altvererbten deutschen Sehnsucht nach den Wundern des Südens es manchmal zu einem Einschlummern, doch der Kopf vermochte immer nur für eine Weile Herrschaft über das Herz zu gewinnen, das sein Leid unverloren und unverändert mit sich trug. Uebers Meer kam er nach Griechenland, Glück und Gunst verschwisterten sich, ihm die Wege zu bereiten – zu gewähren, wonach Tausenden vergeblich der sehnsüchtige Wunsch stand. In Athen ward ihm eine Stellung geboten, die alles in sich schloß, was er zur Befriedigung seines Geisteslebens begehren konnte, und ein Jahrzehnt hindurch nahm er sie ein. Ganz Hellas machte er sich vertraut, doch keine hellenische Frauenschönheit übte eine fesselnde Wirkung auf ihn. In dem deutschen Kreise, mit dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_509.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)