Seite:Die Gartenlaube (1897) 446.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Affekte. Jedermann kennt aus Erfahrung den körperlichen Ausdruck der verbreiteten Affectarten Zorn, Furcht, Schreck, Schmerz, Freude, Trauer usw.

Die gesteigerte Empfindlichkeit des Nervensystems, die wir als Nervosität zu bezeichnen pflegen, spricht sich auch in einem erhöhten körperlichen Wiederhall der Sinneseindrücke und Vorstellungen aus. Ein Geräusch, das der Gesunde vielleicht gar nicht bemerkt, läßt den Nervösen zusammenfahren, der Gedanke an ein verabredetes oder mögliches Zusammentreffen, an eine bevorstehende Eisenbahnfahrt, eine ärztliche Untersuchung oder Operation versetzt ihn in eine allgemeine Unruhe, deren körperliche Zeichen dem unbeteiligten Beobachter vielleicht lächerlich vorkommen, für den Beteiligten aber einen qualvollen Erwartungsaffekt bilden. Oft genug kommt es dabei zu einer wirklichen Angst, die alle geistigen und körperlichen Zeichen der begründeten Furcht aufweist. Man versteht eben unter Angst nichts weiter als eine Furcht ohne genügenden Grund. Einen ähnlichen Affekt, der in zu lebhafter Rückwirkung von Vorstellungen auf das allgemeine Empfinden und das körperliche Verhalten wurzelt, finden wir bei vielen Nervösen in der übermäßigen Furcht vor dunklen Räumen oder vor Dieben und Einbrechern, die sich unter dem Bett oder im Kleiderschrank verborgen haben könnten. Festere Naturen pflegen über solche „Einbildungen“ recht hart zu urteilen, aber die Erfahrung zeigt, daß alles Zureden mit Güte, Ernst oder Spott keine Aenderung in dem ängstlichen Verhalten hervorbringt. Ebenso ist auch die Ueberhastung vieler Nervöser bei ihrer täglichen Arbeit, in dem oft kaum bewußten ängstlichen Gefühl, nicht rechtzeitig fertig zu werden, fast nie durch Belehrung und Zuspruch zu überwinden. Auf die Dauer tröstet man sich dann gewöhnlich damit, daß so eine „aufgeregte Natur“ eben nicht zu ändern sei und so, wie sie ist, verbraucht werden müsse.

Immerhin kann auch der Fernerstehende sich mit einigem Nachdenken ebensogut in diese Eigentümlichkeiten nervöser Mitmenschen versetzen, wie er ihre Empfindlichkeit gegen Geräusche und manche andere ihrer Schwächen begreift. Oft wird allerdings der Grund des Fehlers etwas pharisäisch im Charakter, nicht in einem krankhaften Zustande gesucht. So lange eine große Zahl von Aerzten diese Ansicht teilt, kann man dem Laien gewiß keinen Vorwurf daraus machen. Völlig aber pflegt das Verständnis und oft auch das Mitleid zu versagen, wenn der Leidende eine Angst äußert, die er sich selbst nicht deuten kann, die er vielleicht geradezu für unsinnig erklärt, ohne sich doch davon frei machen zu können.

Auch in der Wissenschaft galt es als ein Kuriosum, als im Jahre 1872 der seitdem verstorben große Berliner Irren- und Nervenarzt Professor Westphal als erster die Agoraphobie oder Platzangst beschrieb. Sie besteht in dem von schwerer Angst und körperlichen Mißempfindungen, oft von dem Gefühl augenblicklich drohender Vernichtung begleiteten Unvermögen, einen freien Platz zu überschreiten. Die Unfähigkeit hat mit dem früheren Charakter, mit dem Mut des Betreffenden gar nichts zu thun, sie ist wiederholt bei Menschen beobachtet worden, die vorher unzweifelhafte Proben hohen Mutes abgelegt hatten und sich nach ihrer Genesung oder auch während der Krankheit in anderen Dingen tapfer und entschlossen gezeigt haben. Seit die Nervenheilkunde diese Zustände beachten gelernt hat, weiß jeder Fachmann, wie häufig und wichtig sie sind. In Laienkreisen werden sie allerdings fast immer noch als eine unbegreifliche Einbildung oder als Ausfluß einer gewissen Verschrobenheit aufgefaßt. Dieser Zustand betrifft indessen häufig Personen, die zwar nervös beanlagt sind, aber im übrigen durchaus den Eindruck gesunder Menschen machen und unmittelbar vorher und nachher ohne jede Beschwerde ihren Geschäften und oft schweren Berufspflichten nachgehen. Gewöhnlich entsteht die Platzangst erst in dem Augenblick, da der dazu Beanlagte auf einen freien Platz heraustritt. Ohne daß er vorher gedacht hat, daß sich etwas Besonderes ereignen würde, befällt ihn plötzlich Angst, Herzbeklemmung, die Furcht vor etwas Unbekanntem und Unbestimmtem. Heftiges Herzklopfen, kalter Schweiß, Frost oder Hitze kommen hinzu, die Beine versagen, es wird dem Kranken schwarz vor Augen und er sieht die völlige Unmöglichkeit ein, den freien Raum zu überschreiten. Zuweilen gelingt es dem Unglücklichen, die Schwierigkeit zu überwinden, indem er sich an andere Fußgänger oder an einen vorübergehenden Wagen anschließt. In leichteren Fällen kann der Kranke wohl auch mit einem Spazierstock in der Hand den Platz überschreiten, während es ihm ohne diesen Schutz nicht möglich war. Der französische Nervenarzt Legrand du Saulle hat einen Fall berichtet, wo ein Offizier Platzangst bekam, wenn er in Civil über einen bestimmten Platz gehen wollte, während es ihm in Uniform und mit dem Säbel an der Seite keine Schwierigkeit machte. In schwereren Fällen giebt es jedoch kein Mittel, der Schwäche zu entrinnen. Nicht selten sind dann auch das Kreuzen breiter Straßen, das Ueberschreiten einer Brücke, das Gehen zwischen langen geschlossenen Häuserreihe erschwert oder unmöglich. Einer meiner Patienten konnte nur auf die Weise spazieren gehen, daß er eine Droschke in geringer Entfernung seinen Spuren folgen ließ und „schwierige Strecken“ fahrend überwand. Zahlreiche Kranke mit Platzangst, die sich zur Straßenangst ausgedehnt hat, kommen schließlich dahin, Monate und Jahre hindurch ihre Wohnung nicht zu verlassen. Manchen sind nicht leere, sondern belebte Straßen hinderlich, bei anderen wechselt das Verhalten, z.B. je nachdem sie den schwierigen Punkt in der Richtung von ihrem Hause zu ihrem Geschäftslokal oder auf dem Rückwege zu überwinden haben, und so weiter.

Die Platzangst ist aber nur eine Form der neurasthenischen Angst, und nicht einmal die häufigste. Zahlreiche Nervöse bekommen Angst, wenn sie in geschlossenen Räumen, z.B. in einem kleinen Zimmer oder im Eisenbahncoupé sind. Manchen darunter wird es leichter, wenn sie dann wenigstens nicht allein sind, anderen ist gerade das Zusammensein mit Menschen im engen Räumen peinlich. Wieder andere bekommen die Angst gerade in großen Räumen und können deshalb keine Kirche, kein Theater, keine Versammlung besuchen oder müssen dort wenigstens einen Eckplatz haben, der ihnen für den Fall der Not das Entkommen erleichtert. Längst nicht immer, wie manchmal geglaubt wird, giebt die Befürchtung eines möglichen Unglücksfalles den Grund für dies Verhalten ab, viel öfter ist es die Angst vor dem Nichtwegkönnen. Ich kannte einen Neurasthenischen, der unter Fremden nur mit Beklemmungen zu Tisch ging, in der Befürchtung, während der Mahlzeit einen Angstzustand zu bekommen und dann nicht ohne Aufsehen fortgehen zu können. Anderen ist es nicht möglich, sich rasieren zu lassen oder sich auf den Operationsstuhl eines Zahnarztes zu setzen, rein aus Furcht vor der Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Obwohl sie gar nichts Bestimmtes befürchten, haben sie geradezu eine Angst vor der möglicherweise eintretenden Angst.

Viele Nervöse können nicht auf einen Balkon oder an ein hochgelegenes Fenster treten, ohne heftige Angst zu bekommen – eine Steigerung des noch im Bereich des Gesunden gehörenden Höhenschwindels. Hier läßt sich also wenigstens eine bestimmte Beziehung, eine gewisse Begründung des peinlichen Gefühls nachweisen. Aehnlich liegt es bei solchen, die einen hohen Saal oder eine Brücke deshalb nicht betreten können, weil sich ihnen die Möglichkeit des Einsturzes aufdrängt. Hierher gehören auch die übertrieben Angst vor Gewittern, vor Tieren, besonders vor Hunden, Kuhherden, Schlangen, Spinnen, Mäusen, Bienen und Ungeziefer, ferner vor der Dunkelheit, namentlich vor dem Alleinsein im Dunkeln, vor Explosionen, vor dem Herabstürzen von Kronleuchtern, vor dem Durchgehen von Pferden, vor dem Umstürzen des Wagens oder dem Entgleisen der Eisenbahn usw. Es ist unmöglich, alle die Gelegenheiten aufzuzählen, wo ein von Gesunden im ersten flüchtigen Auftauchen unterdrückter Gedanke für den Nervösen zur Quelle schwerer, überwältigender Angst wird. Bei leichterer Nervosität kommt es nicht zu so ausgesprochen krankhaften Empfindungen, aber man verspürt doch bei den bekannten Gelegenheiten ein gewisses Unbehagen. Ob nur einer oder einzelne von den angedeuteten Anlässen die unangenehme Wirkung haben, oder ob jede derartige Situation die peinlichen Empfindungen hervorruft, hängt teils von dem Grade der Krankheit, teils von besonderen Veranlassungen ab. Es ist ohne weiteres klar, daß jemand, der einmal einen Brückeneinsturz, ein Eisenbahnunglück, eine Feuerpanik miterlebt hat oder etwa durch Angehörige daran beteiligt war, sich besonders leicht die Wiederholung eines solchen Vorganges ausdenken kann.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_446.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2018)