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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Vaters geglitten war. Ueberhaupt dieses Krankenzimmer, dieser letzte düstere Eindruck des Sterbens drängte sich immer wieder in seine Erinnerung. So oft er seine eigenen schmalen blassen Hände betrachtete oder sein mager gewordenes, verändertes Gesicht im Spiegel sah, mußte er an den Sekretär Rautenbach denken. Die Schmerzen in der Brust, die Atemnot wollten nicht weichen. Er sah wohl, welch bedenkliches Gesicht der Arzt machte, der täglich kam, der ihn immer wieder abhorchte. Auf die Frage: „Nicht wahr, lieber Doktor, ich habe einen schlimmen Treff gekriegt, von dem ich mich schwerlich erholen werde?“ antwortete der Arzt allerdings mit einem Lachen, das aber nicht ungezwungen klang. „Was fällt Ihnen ein? Setzen Sie sich doch keine Grillen in den Kopf!“

Forstner glaubte ihm nicht. Er besaß von seinem Vater, der selbst Arzt gewesen war, verschiedene medizinische Bücher, in denen er nun über Lungenentzündung, über Schwindsucht, die sich sehr häufig aus der akuten Erkrankung entwickelt, nachlas. Kraft war daraus freilich nicht zu schöpfen. Er fühlte ja selbst am besten, daß seine Lunge krank war, und daß es dagegen kein Mittel und kein Heilkräutlein gab, davon war er überzeugt. Er war ein verlorener Mann wie der arme Rautenbach, nur daß er sich wenigstens nicht um unversorgte Angehörige zu beunruhigen brauchte. Freilich, was sollte aus der armen Sekretärstochter werden, wenn er ihr nicht mehr die kleine Summe für ihren Unterhalt schickte?

Der Gedanke an diese Verpflichtung quälte ihn bei seinem vielen einsamen Grübeln, wenn er nun stundenlang in seinem Lehnstuhl saß und nur das leise Summen der Lampe, das dumpfe Wagenrollen auf der hartgefrorenen Straße hörte.

Er wollte die Sache für alle Fälle geordnet haben. Wer konnte denn wissen, ob nicht ein plötzlicher Blutsturz seinem Leben ein Ende machte? So schrieb er denn an seinen Schwager, den Gutsbesitzer Bergmann, und bat ihn, nach München zu kommen, diesen Besuch jedoch, wenn irgend möglich, seiner Frau zu verschweigen. Forstner wollte seine Schwester nicht erschrecken und beunruhigen. Sie sollte nicht erfahren, wie schlimm es mit ihm stand, die arme Julie hatte ihn einst so lieb gehabt! Sein Schwager kam denn auch, erschrak sichtlich, als er den Regierungsrat so verändert, so gänzlich abgemagert und eingefallen wiedersah, suchte aber nach einigen tröstlichen Redensarten, als Franz van seinen ernsten Besorgnissen zu reden begann.

Der Regierungsrat hatte seiner Zeit sein Kapital als Hypothek auf das Bergmannsche Gut gegeben, er bekam auch regelmäßig seine Zinsen. Da seine Schwester ihn nach dem Gesetz beerbte, war es ihm überflüssig erschienen, ein Testament zu machen, er meinte, eine persönliche Wunschäußerung würde genügen, um seine Verwandten zu veranlassen, die kleine Unterstützung an Fräulein Rautenbach auch nach seinem Tode auszuzahlen.

Aber sein Schwager verhielt sich auffällig zögernd, nachdem er ihm mit den nötigsten Auseinandersetzungen sein Anliegen vorgetragen. Der Gutsbesitzer hüstelte verlegen, fing an über die schlechten Zeiten für die Landwirtschaft zu klagen und ließ sich endlich von seiner Abgeneigtheit gegen jedwede Verpflichtung zu der Bemerkung hinreißen, es würde ihn sehr erleichtern, das Kapital nicht mehr verzinsen zu müssen er könnte dann bauliche Veränderungen vornehmen, seinen Stall besser einrichten usw. Warum einer Fremden eine im Laufe der Jahre doch beträchtlich anwachsende Summe zuwenden, welche die nächsten Verwandten so notwendig brauchten?

Kranke haben feine Empfindungsnerven und hören mit scharfem Ohr was oft einem gesunden Menschen entgeht. Forstner war nach dieser Erklärung fest überzeugt, daß Bergmann die Möglichkeit, ihn bald zu beerben, bereits ins Auge gefaßt, ja gewiß auch mit seiner Frau erwogen und besprochen habe. Julie tröstete sich wohl rasch über den Tod des Bruders, weil ihrem Gatten die ersparten Zinsen so trefflich zu statten kamen!

An seinem Grabe würden sie heimlich überlegen, wie sie das willkommene Geld am besten verwenden möchten, und hinter ihren Trauermienen ein Lächeln der Befriedigung verbergen! Und das waren die Menschen, die ihm am nächsten standen!

Eine unsägliche Bitterkeit, ein trostloses Gefühl der Verlassenheit bemächtigte sich des einsamen, in seine stille Krankenstube gebannten Mannes. Er schrieb an seinen Minister eine flehende Bitte, ihm Arbeit ins Haus zu schicken. Die langweiligsten Akten waren eine Erlösung von seinen trübseligen Gedanken. Nur wieder ins Bureau können! nur nicht in dieser Unthätigkeit beharren müssen, das war sein heißester, ungeduldigster Wunsch.

Eines Tages, als er ein paar Stunden gearbeitet hatte und sich infolgedessen in etwas besserer Stimmung befand, kam seine Haushälterin mit neugierigem Gesicht herein und sagte in einem Tone, der Verwunderung und Mißbilligung ausdrückte: ein Fräulein sei draußen – sie wolle ihn sprechen – ob sie die hereinlassen müsse?

Er vertauschte rasch seinen Hausrock mit einem schwarzen, der ihm viel zu weit geworden war, und wartete mit dem Unbehagen, das ein Kranker bei jeder Störung empfindet auf den Besuch.

Hedwig trat herein mit ihrem altmodischen tiefen Knix, in einem engen Krägelchen, das wohl auch schon ihrer Mutter gehört hatte. Sie sah gealtert und blaß aus in ihrem schwarzen Capothut, mit dem schlaff herabhängenden Kreppschleier.

Verlegen nahm sie auf der äußersten Ecke des Stuhles Platz, den er ihr anbot, und brachte kein Wort hervor. Er las aus ihrem Gesichte, aus ihrem bittenden, ängstlichen Augenaufschlag, daß sie ein Anliegen an ihn habe. Aber er selbst war auch ein wenig verlegen über dieses Zusammensein; jede Kleinigkeit konnte ihn jetzt in eine krankhafte Unruhe versetzen.

Nach der üblichen Frage. „Wie geht es Ihnen?“, die sie mit einem Kopfschütteln, mit einem leisen Seufzer beantwortete, wußte er nicht viel zu sagen.

„Kann ich Ihnen mit etwas dienen?“ frug er dann endlich, da ihr stummes Vorsichhinstarren ihm peinlich wurde.

Sie nickte, zögerte noch immer und faltete endlich die Hände wie ein bittendes Kind.

„Ich möchte ja gerne – ich wollte Sie bitten – es ist ja sehr unbescheiden, mich an Sie zu wenden, aber ich kenne ja niemand – wenn Sie mir nur einen Rat geben wollten!“

„Gerne, wenn ich kann,“ sagte er ermutigend.

„Ich habe gedacht, ich könnte doch irgend eine Stelle finden, bei Kindern oder als Krankenpflegerin. In die Zeitung habe ich eine Annonce geschickt, aber es kam niemand. Ich habe ja auch keine Zeugnisse, und wenn ich auch mehrere Sprachen verstehe und Papa mich in vielem unterrichtet hat, so ist das doch alles nicht gründlich genug für eine Lehrerin.“

Er sah sie forschend an. Hatte sie erfahren, welche Bewandtnis es mit der Pension eigentlich hatte, und war sie zu diesem Entschlusse gekommen, um seine Unterstützung künftig zurückweisen zu können? Jede Frage schien ihm peinlich. Glücklicherweise fuhr sie selbst fort

„Ich bekomme ja eine Pension, mit der ich ganz gut reiche. Ich kann sogar noch so viel sparen, daß ich bald das Geld zu einem schönen Grabsteine für meinen armen Vater beisammen habe.“

Er machte unwillkürlich eine überraschte Bewegung und wendete das Gesicht ab. Wie einfach sie leben mußte, um noch etwas zu erübrigen! Er wußte das ja am genauesten. Das arme Ding! Er fand das wirklich rührend.

„Aber es ist so schrecklich, ganz allein zu sein, gar nichts zu thun zu haben! O, Herr Regierungsrat, wenn Sie mir nur raten möchten, wie ich mich ein bißchen nützlich machen kann!“

Sie sagte es ganz leise, aber mit einer zitternden Stimme, aus der eine dumpfe Verzweiflung herausklang.

„Ich will mich besinnen,“ versprach er freundlich. „Allerdings – ich komme, seit ich krank bin, ja nicht unter Menschen. Aber es wird sich dennoch etwas finden lassen, wenn Sie ein wenig Geduld haben.“

Sie stand auf, streckte ihm schüchtern die Hand hin und wehrte sich so ängstlich gegen seine Begleitung, daß sie schon zur Thüre hinausgeschlüpft war, ehe er nach seinem Shawl gegriffen hatte, um sich auf dem kühleren Flur einzuhüllen.

(Fortsetzung folgt.)
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