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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Der Zigeuner erwiderte zunächst kein Wort auf diese wohl gesetzte Rede, aber als er nach Verlauf von sechs Monaten wirklich nach der Residenz und zu Trautweins ins Haus kam, traf er alle Anstalten, die Ermahnungen seiner Schwester in Thaten umzusetzen. Er hatte nie irgend welches Interesse für kleine Kinder gehabt – und welchem fünfzehnjährigen jungen Menschen könnte man das ohne weiteres zumuten? – aber die kleine Leonie … ja, das war eben eine Ausnahme! Konnte es auf Gottes weiter Welt noch andere Kinder geben, die so entzückend, so reizend waren, so lieblich zu bitten, so lustig zu lachen, so klug auszusehen wußten? Leo war felsenfest davon überzeugt, daß die Kleine einzig in ihrer Art sei. Er trug seine Bücher und Hefte ins Kinderzimmer hinüber, um dort zu arbeiten, während sie schlief, und ihr auch dann nahe zu sein, er fuhr sie in ihrem Wägelchen im Garten spazieren und nahm sie auf den Arm, sobald sie unruhig wurde. Er war nicht dazu zu bewegen, sich schlafen zu legen, sobald das Kind einmal krank war, er leitete ihre ersten Gehversuche und brachte ihr die erste Puppe. Wenn Leonies Eltern in Gesellschaft gingen, so wußten sie ihre Kleine bestens aufgehoben.- Leo war ja da und hütete sie wie sein Augenlicht.

Jedermann kann es sich denken, daß „Onkel Zigeuner“ sich für ein kleines Kind, das eben reden lernt, ganz besonders schwer ausspricht, dennoch war dies das erste, was die „Kronprinzessin“ sagte … so verstümmelt und undeutlich zwar, daß nur die geschärften Sinne des zärtlichen Onkels herausfanden, was das Kind eigentlich meinte. Aber das Glück und der Stolz von „Onkel Zigeuner“! Er mußte sich die Neckereien damit noch jahrelang gefallen lassen. Ach, mochten die Leute … Er wußte, was er gehört hatte!

Vier Jahre war Leonie alt, da hatte der Onkel das Gymnasium absolviert und sollte auf die landwirtschaftliche Akademie gehen, um sich auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Was ihn die Trennung von dem Kinde kostete, erfuhr niemand, und das Kind selbst verstand es noch nicht. Er hatte geglaubt, sich von Schwester Käthe schwer losreißen zu können, er fühlte jetzt, welch’ leichter Abschied das gewesen war, nun es galt, von seiner Nichte Leonie zu scheiden.

Reizend genug war sie, seine „Angebetete“, wie die Freunde des Hauses sie nannten. Fein und zierlich gebaut wie ein Wachspüppchen, mit behenden Gliedern ganz hellem weichem Seidenhaar und lichtblauen Augen. Wenn sie auf „Onkel Zigeuners“ Knieen saß und er sein dunkles Haupt auf sie herabneigte, welch’ wunderlichen Kontrast dann diese beiden bildeten! Es hörte niemand, wenn er, ihr Händchen an seine Lippen gedrückt, dicht an ihrem Ohr ganz leise fragte. „Wirst du mich auch nie, nie vergessen?“ Die Kleine sagte jedesmal sehr ernst. „Nein, nie!“ und auf die zweite Frage. „Wen hast du am liebsten?“ lautete regelmäßig die Antwort. „Onkel Zigeuner!“

Ach, aber Trennung ist eine gefährliche Sache bei Kindern! „Aus den Augen, aus dem Sinn!“ – wenn überhaupt, so paßt das schlimme Sprichwort bei ihnen. Das wußte Leo nur zu genau, und er traf seine Maßregeln, so umsichtig er nur konnte. Er schickte die schönsten Geschenke an das Nichtchen, er schrieb zahlreiche kleine Briefe, die Mama ihr vorlesen mußte, so lange, bis Leonie selbst in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens eingeweiht war. So oft er irgend konnte – auch später, als er die Oekonomie praktisch auf Gütern lernte – machte er die weite Reise zu den Seinigen, und jedesmal fand er das Kind schöner, klüger, liebreizender denn je. Es waren im Verlauf der Jahre zwei Brüder dazugekommen, aufgeweckte hübsche Jungen … aber, wie Leonie die einzige Tochter des Hauses blieb, so blieb sie auch die „Einzige“ in Onkel Zigeuners Herzen. Seine ernste, verschlossene Art – bei ihr legte er sie ab, wußte zu lachen und zu erzählen, von fremden Ländern und Menschen, wußte sich zu interessieren für Puppen und Bänder und kleine Schulgeschichten, wußte Bilder zu zeichnen und Märchen zu erfinden und hatte Geduld, so viel und so oft, daß Frau Käthe kopfschüttelnd sagte. „Mein Zigeuner, du bist mir lieb und wert, wenn du kommst, aber, verzeih’, ich seh’ es nicht ungern, wenn du wieder abfährst! Du verwöhnst uns ja das Mädchen in Grund und Boden!“ Dann pflegte er zu erwidern. „Das geschieht mit Absicht! Sie soll an mich denken, wenn ich fort bin!“

That sie das? – –

Sie war nicht so wie die meisten Kinder, darin hatte Leo recht. Sie konnte sehr heiter sein mit den Brüdern und Freundinnen lustig lachen, aber für das, was ihr das innerste Herz bewegte, fand sie keine Worte. Einmal war die Mutter zum Tode krank gewesen – die Knaben waren in Thränen aufgelöst, sogar den Vater hatte man weinen gesehen, Leonies süßes Gesichtchen war blaß bis in die Lippen, aber sie fand keine erleichternde Thräne und keine Klage, ebensowenig vermochte sie es, später in den lauten Jubel der Ihrigen einzustimmen. Sie sprach selten von Onkel Zigeuner, sie liebte es nicht, seine Briefe herumzuzeigen und ausführlich zu erzählen, was sie ihm geschrieben – „er läßt grüßen, er ist gesund“ oder „er wird im nächsten Monat herkommen“, mehr erfuhr man nicht von ihr.

„Es ist förmlich, als ob der Zigeuner ihr mit seinem Herzen zugleich etwas von seinem Temperament und seinem wunderlichen Wesen gegeben hätte!“ bemerkte Rechtsanwalt Trautwein oft halb lachend, halb ärgerlich. „Ich weiß wahrhaftig nicht, so tüchtig und ehrenwert er auch als Mensch ist, ob ich mich für das Mädel darüber freuen soll! ’s ist ein Kunststück, aus den beiden klug zu werden!“

Bevor Leo Gräfenberg nach England und Amerika ging – er sollte demnächst das väterliche Gut übernehmen, zuvor aber noch sich „drüben“ umsehen und die dortigen Systeme, Einrichtungen und Maschinen kennenlernen – kam er noch einmal zu den Seinigen, voraussichtlich sollte es für lange Zeit das letzte Mal sein. Leonie war innerhalb des letzten Jahres ungemein gewachsen, man hatte ihr lange Kleider anschaffen müssen, trotzdem sie erst etwas über vierzehn Jahre alt war. Ihr schönes freihängendes Haar war zusammengeflochten, ihr Kindergesicht mit den feinen, weichen Zügen war dasselbe geblieben, dennoch war der Eindruck, den ihre ganze Erscheinung machte, auffallend verändert, wenn man zurückdachte an das kleine Mädchen, das sie vor kaum einem Jahr noch gewesen war.

Onkel Zigeuner dachte ganz entschieden daran zurück. Und, sei es, daß ihm das Kind von damals besser zugesagt hatte als das heranreifende Mädchen von heute, sei es, daß die lange Trennung, die ihm so nahe bevorstand, ihm bereits in den Gliedern lag, sie fanden es alle im Trautweinschen Hause, daß sich in seinem ganzen Benehmen, namentlich Leonie gegenüber, ein gewisser Zwang fühlbar machte, den man früher niemals an ihm beobachtet hatte. Viel Gelegenheit zu Beobachtungen bot er seinen Verwandten freilich auch jetzt nicht. Er mußte mächtig viel Vorbereitungen zu seiner überseeischen Reise zu treffen haben, denn er blieb ganze Stunden vom Hause fort, und fragte man ihn, wo er gewesen wäre, so lautete die Antwort jedesmal: „Ich habe Einkäufe gemacht!“ Was man von diesen Einkäufen zu sehen bekam, stand übrigens in keinem Verhältnis zu dem großen Zeitaufwand, den sie erforderten.

Früher hatte der „Zigeuner“ mit anerkennenswertem Geschick jede mögliche Gelegenheit auszuspähen gewußt, um mit seinem Liebling Leonie unter vier Augen zu sein. Es schien jetzt beinahe, als wenn er eben dieselbe Geschicklichkeit aufbiete, um dem Mädchen auszuweichen. Nie mehr hieß es in der Familie. „Leonie ist natürlich wieder mit Onkel Zigeuner im Garten!“ oder „Wo der Onkel steckt?“ Frag’ nur Leonie, die muß es wissen!“ Jetzt fragte sie niemand, und sie hätte auch nichts antworten können.

Wie das Mädchen selbst diesen veränderten Stand der Dinge auffaßte, bekam natürlich kein Mensch zu erfahren. Leonie, die als „höhere Tochter“ viel für ihre erste Klasse zu arbeiten hatte, ging scheinbar unbekümmert ihres Weges und fragte nach „Onkel Zigeuner“ genau so viel wie er nach ihr … mithin so gut wie gar nicht. Auch der Trennungsakt vollzog sich leichter und rascher, als sie alle gedacht hatten, und Frau Käthe meinte hinterher. „Glaubt es mir, der Leo war schon die ganze letzte Zeit mit seinen Gedanken mehr drüben als hier bei uns. Er hat es für seine Pflicht gehalten, uns noch einen Abschiedsbesuch zu machen, aber sein Herz war nicht mehr dabei und darum hat sich der verdrehte Junge so albern benommen!“

Aber auch kluge Frauen und Schwestern können sich gründlich irren, und manche Mütter werden erst dann scharfsichtig, wenn ihre Töchter aus den Kinderschuhen heraus sind!

Thatsache war, der arme Zigeuner nahm ein sehr, sehr

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