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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

schäumendes Bier, ferner Soleier, Radieschen und Mettwurst, und das stand alles auf blendend weißem Tischtuch, und die beiden alten Damen hatten so blendend weiße Häubchen, und das junge Mädchen heute so rosenrote Wangen und blitzende Augen, daß einem heiratslustigen jungen Doktor, der ja nach der Meinung aller älteren Damen durchaus eine Frau haben muß, da unverheiratete Aerzte zu genierlich sind – daß einem solchen wohl das Herz aufgehen konnte, zumal wenn er so viel Sinn für Gemütlichkeit und häusliches Leben hatte wie Doktor Lehmann. Geld besaß sie freilich nicht, aber sie war herzig, und er durfte ja immerhin ’mal ein nettes kleines Vermögen erwarten, er konnte sich den Luxus erlauben, aus Liebe zu heiraten. Der Alte würde brummen – na, schadete nichts, er mußte sich ja aussöhnen, wenn er das Mädchen sah!

„Sie waren doch heute auf dem Schloß?“ fragte Frau Rat. Er zuckte heute nicht die Schultern, sondern erwiderte. „Ja, ich war auf dem Schloß.“

„Bei Kerkow?“

„Ja, bei Kerkow.“

„Um den Jungen?“

„Um den Jungen.“

„Steht’s schlecht?“

Jetzt hielt er das Achselzucken für angebracht. „Na, prosit, Frau Medizinalrat!“ sagte er, sein Glas ergreifend.

„Prosit!“ nickte Frau Rat, ihn ein bißchen schief ansehend, und dachte: warte – später will ich dir das Achselzucken schon abgewöhnen! „Ich glaubte nur,“ fügte sie hinzu, „weil Sie so eilig geholt wurden.“

Das kleine Dienstmädchen erschien plötzlich und rief Frau Rätin hinaus; nach einem Weilchen wurde auch Tante Emilie hinaus beordert und dann hörte man draußen etwas wie Schelten und Jammern. Aenne saß derweil höflich bei ihrem Gast, der sie mit seinen runden dunklen Augen durch den Kneifer in stiller Bewunderung betrachtete.

„Wollen Sie mir nicht verraten, wie es dem armen Kleinen droben geht?“ fragte das junge Mädchen jetzt.

„Ach, Fräulein Aenne, das ist ein Trauerspiel,“ gab er zur Antwort, „der Junge macht mir schon genug Sorge, aber der Vater noch mehr.“

„Ist Herr von Kerkow krank?“ fragte Aenne scheinbar obenhin, aber das Herz klopfte ihr mächtig.

„Vollständige Abulie.“

„Was ist das?“

„Das ist eine Seelenkrankheit, Fräulein Aenne.“

Sie wechselte plötzlich die Farbe. „Wie äußert sich das Leiden?“ fragte sie.

„Das ist Willenlosigkeit in höchster Form, Gleichgültigkeit, Melancholie.“

„Um Gottes willen, so helfen Sie ihm doch, Herr Doktor!“ stieß sie hervor.

„Ich?“ Er lachte kurz auf. „Wissen Sie, der hört überhaupt nicht zu, wenn ich ihm etwas sage – da müssen andere Einflüsse kommen als der meine. In eine Nervenheilanstalt mit ihm und dort rücksichtslos ihm klar machen, was er für ein Jammermensch geworden ist, das wäre noch das einzige! Uebrigens, ein Wunder ist’s nicht! Sieben Jahre und mehr Schloßhauptmann von Breitenfels – der Teufel! Ich wäre schon früher übergeschnappt. Und dann alle die sauberen Geschichten nebenher, die davongelaufene Frau, das krüppelhafte Kind, und immer in den himmelhohen, einsamen Zimmern, um die der Wind heult und von denen man meilenweit in die Welt hinaussieht, in die Welt, in der es Arbeit, Lust und Kampf und, mit einem Worte, Leben giebt! Und hier festgeschmiedet sitzen als Nichtsthuer, bewußter Nichtsthuer, denn er weiß ja was diese Stellung bedeutet, und dazu Geist im Kopfe und Blut in den Adern! – – Na, jetzt ist’s zu spät, jetzt rappelt er sich nicht mehr allein heraus, und eine Hand, die ihm helfen könnte, hat er nicht. Neulich sagte ich ihm ’mal: „Zum Donnerwetter, Herr, werfen Sie doch dem Durchlauchtigsten seinen Schloßhauptmann’ vor die Füße, scheren Sie sich ins Leben hinaus, meinetwegen als Eisenbahnschaffner, und suchen Sie andere Eindrücke, sonst gehen Sie zu Grunde!’ Was meinen Sie, was er antwortete? Nichts antwortete er, sieht nur an mir vorüber auf das Kinderbett, als ob das unglückliche Kerlchen nicht irgendwo in einer Familie untergebracht werden könnte, zum Beispiel bei der verheirateten Schwester. Aber darin ist er so unvernünftig wie eine herzkranke Mutter. Na, mich hat er ja nicht konsultiert für seine Person, und ich trage keine Verantwortung! Und nun lassen wir das Thema, Fräulein Aenne, es paßt nicht hinein in diese Gemütlichkeit! – Sehen Sie doch nur, wie der Mond durch die Birnbaumzweige guckt und durchs Fenster glustert, so daß der Storm ein Gedicht’ darüber machen könnte, wenn er noch lebte! Und dann hier – wir beide am Eßtisch – so haben gewiß Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter zusammengesessen in dieser Stube, als sie jung verheiratet waren. Es ist einfach rührend, famos, und ich –“

In diesem Augenblick kam Frau Rat mit einer Glasschüssel, in welcher etwas Hellgelbes bibberte und zitterte, und hinter ihr Tante Emilie mit einem Kännchen voll Himbeersaft zurück, und Frau Rat entschuldigte sich mit riesigem Wortschwall wegen ihrer langen Abwesenheit; das erzdumme Mädchen habe vorwitzigerweise den Flammeri stürzen wollen, und natürlich sei er zusammengefallen. Sie sah dabei verstohlen vom Doktor, dessen Augen glänzten, zu Aenne hinüber, die stumm und blaß auf ihrem Stuhle saß. Jedenfalls – die Präliminarien einer Liebeserklärung waren erfolgt. Herrgott, wenn’s doch zum Abschluß käme, aber bald – bald!

Nach dem Essen ging man ein wenig im Garten umher. Frau Rat prüfte die kleinen grünen Früchte der Stachelbeersträucher und dachte, daß sie nächstens ein Kompott davon geben könne, mit Omelette, und der Doktor hielt sich neben Aenne und knüpfte allerlei drollige Betrachtungen an über die verwehten weißen Blütenblättchen der Obstbäume, die wie frisch gefallener Schnee auf den Wegen und dem Rasengrund lagen; Aenne hörte es kaum, sie sah nur immer Heinz vor sich. Frau Rat machte sich weit entfernt von ihnen im Garten etwas zu schaffen und ärgerte sich wütend über Tante Emilie, die den beiden jungen Leuten nachging und weder das Husten noch das Rufen der Rätin zu hören schien.

„Dummheit ist doch ’ne Gottesgabe,“ murmelte sie erbost, „sie stört möglicherweise gerad’ den Augenblick, wo das Kind sagen will: ’Sprechen Sie mit meiner Mutter!’ Sieht’s nicht gerade so aus? Er, der wie ein Buch redet, und sie mit gesenktem Kopf! O, du lieber Himmel, nun ist sie schon ganz in ihrer Nähe. – Emilie! Emilie!“ schrie sie mit voller Kraft, „komm’ doch ’mal eben her, ich sitze hier fest – mein Kleid sitzt fest an den Stachelbeeren!

Aber natürlich, ihr ging heute alles überquer – anstatt der alten Tante Emilie, die ja doch nicht mehr so laufen konnte, kam Aenne eilends daher, das Rot des Erschreckens auf dem Gesicht. „Was ist denn, Mütterchen?“

„Bin schon losgekommen,“ brummte die schwer enttäuschte Frau, „kannst wieder gehen.“

„Mutter,“ sagte das schöne Mädchen und preßte die Hand gegen ihre Schläfe, „unterhalte du deinen Freund ein wenig, ich habe Kopfweh und möchte hinaufgehen.“

Frau Rat wollte schon eine schmetternde Rede loslassen, des Inhalts, daß man sich beherrschen müsse, da sah sie das bleiche, leidende Antlitz der Tochter, das völlig verändert erschien.

„Na ja, das kommt vom Umherrennen draußen, hast dich wahrscheinlich nach deiner Gewohnheit stundenlang auf den feuchten Boden gesetzt. Geh’ nur, wenn’s schlimmer werden sollte – der Doktor ist ja im Hause!“

Tante Emilie und der Doktor, die eben den Gang herauf kamen, sahen die schlanke, dunkle Gestalt Aennes gerade noch im Hausflur verschwinden. Nun hätte Frau Rat den Doktor gern ein wenig allein gesprochen, und Tante Emilie wegzubringen, war ja so leicht.

„Sieh’ doch nach, Emilie,“ bat sie, „ob sie’s etwa im Halse hat?“ Und dann fragte sie den jungen Arzt, ob er schon das neue Riesenvergißmeinnicht gesehen habe. – „Nein? O, das müssen Sie sehen, bei dem Mondschein ist’s hell genug.“

Er war bis oben vollgefüllt von Hoffnungen, Wünschen, Zukunftsplänen – ein Funke, und die Bombe mußte platzen, und da Frau Rat diesen Funken schlug, prasselte das Bekenntnis des kleinen, dicken Doktors mit einer Leidenschaft empor, die selbst Frau Rat überraschte. Seine Beteuerungen, daß er Aenne geradezu „wahnsinnig“ liebe, seine verschiedenen Versicherungen auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_294.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)