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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Ich auch, Heini, sehr lieb, und nun kommt seine Tochter, und Tante Hede sagt’s ihr, daß ihr alter Papa schläft.“

„Kennst du die Tochter, Papa?“

Heinz streichelte das Blondköpfchen: „Ja, mein Junge, und du kennst sie auch.“

„Nein, Papa!“

„Doch, Heini!“ Sie hielt im Sommer das Glas Milch, damit du trinken solltest – erinnerst du dich?“

„Ja! Nun wird sie wieder weinen; du hättest hinfahren sollen, Papa.“

„Nein, Heini, ich mag nicht sehen, wenn sie weint.“

„Kannst du sie denn nicht leiden?“

Heinz blieb die Antwort schuldig. – Nach Tische, als der Kleine schlief, stand er wieder am Fenster und wartete auf die Rückkehr des Wagens. Er hatte auch den Schloßgärtner holen lassen und ein paar Palmenzweige bestellt, so schön sie da waren. Dann fiel ihm ein, daß er zum Begräbnis gehen müsse – Begräbnisse boten jetzt die einzige Abwechslung in seinem Leben – und da würde er Aenne sehen. Vielleicht schloß er sich auch erst auf dem Kirchhofe an, vielleicht auch vermißte man ihn gar nicht!

Endlich sah er den Wagen heraufkommen längs der Parkmauer, sah ihn über den Schloßplatz rollen und vor dem Hause des Medizinalrats halten. Eine Gestalt stieg aus und verschwand in der Hausthür, der Wagen wandte um und fuhr langsam den letzten steilen Weg hinan.

Aenne war heimgekommen! Arme Aenne, sie hatte den alten Mann so kindlich geliebt und verehrt!

Hede trat bald darauf in das Zimmer, sie hatte verweinte Augen und gab ihm stumm die Hand.

„Sie läßt dir danken für den Wagen,“ sagte sie endlich. „Wie ist es euch ergangen unterdes? War der Tisch ordentlich besorgt?“

„Ich glaube – ja – es war alles in Ordnung.“

„Dann auf Wiedersehen beim Thee, ich will ein wenig ruhen. Sie ging in ihr Zimmer.

Sie war Aenne zum erstenmal begegnet, und die Erscheinung des jungen Mädchens, der Zauber ihres Wesens hatte sie gleich gefangen genommen wie die angstvolle Frage in den großen feuchten Augen, als sie ihr entgegentrat, wie die schlichte, gefaßte Art, mit der sie die bittere Nachricht aufnahm.

„Meine arme Mutter,“ hatte sie gesagt mit einem Aufschluchzen und dann mit ihrer halb heiseren Stimme zum Kutscher: „Nicht wahr, Sie fahren recht schnell?“ Und während des ganzen Weges nur noch einmal. „Haben Sie meine Mutter gesehen? Bekümmert sich denn jemand um sie? Ach, wäre ich erst daheim!“

„Günther befand sich bei ihr, als ich sie verließ, hatte Hede erwidert, aber sehr gepreßt.

„Ach, das ist gut, das ist gut!“ war die Antwort gewesen, und erst dann kamen die Thränen geflossen.

Ja, was war sie neben diesem Mädchen, sie, die arme Hede Kerkow mit ihren fünfunddreißig Jahren? Er hatte jene geliebt, er liebte sie noch, und sie wunderte sich, daß er andere nicht bemerkte!

Es war etwas wie Ruhe über sie gekommen, die Ruhe, die man einer unabänderlichen Thatsache gegenüber empfindet, ein Strich unter alle ihre thörichten Wünsche und Hoffnungen, die sie sich selbst kaum eingestehen mochte. Nur eines sollte die Vorsehung ihr gewähren – daß sie Heinz dem Leben wieder gewinnen könne.


Den alten Herrn hatte man zur Ruhe bestattet. Schon acht Tage waren seitdem vergangen, die Kinder waren noch vollzählig versammelt um die Mutter, die sich in ihrem Jammer nicht zu finden vermochte in das Leben einer Witwe. Der Lieutenant und der Referendar wollten noch über das Weihnachtsfest bleiben, und es gab ja auch noch manches zu besprechen mit der alten Frau, wozu sich bis jetzt der passende Augenblick nicht gefunden hatte. Angenehmes war es natürlich keineswegs. Tante Emilie, die zwölf Stunden später als Aenne in Breitenfels eintraf, gerade noch recht zum Begräbnis – sie hatte doch die kleine Wohnung erst versorgen müssen auf längeres Fernbleiben – war mit Rat und That um die ganz aus den Fugen gekommene Schwägerin bemüht, trotzdem ihr selbst das Herz um den Goldbruder recht weh that. Die alte Frau klammerte sich krampfhaft an ihre Tochter, und Aenne war so mild und geduldig, so tröstend, wie nur sie sein konnte. Sie schlief neben der Mutter, sie hörte das nächtelange Weinen und Jammern und nahm klaglos die Vorwürfe hin, daß sie gefühllos sei, wenn der Jugendschlaf sie überwältigte unter dem Stöhnen der alten Frau.

Heute fühlte sie sich, die allezeit Aufrechte, die ja doch selber so heißen Schmerz um den Vater empfand, nach einer ganz durchwachten Nacht aber so müde und ruhebedürftig, daß sie hinausschlich in ihr kleines Stübchen und es Tante und Brüdern überließ, mit der Mutter auf ein paar Stunden allein fertig zu werden. Frau Rat war jetzt in ein neues Stadium, in das der Bitterkeit, geraten. „Wär’ ich nur gleich gestorben,“ klagte sie wieder und wieder, „läg’ ich auch nur gleich da drunten, dann hätten meine Kinder doch die große Last nicht, die so ein armes, verlassenes, altes Tier verursacht wie ich es bin!“

Der Lieutenant, der etwas von ihrem Temperament besaß, legte das Wochenblättchen hin, in dem er gelesen, und nervös mit dem Finger seinen Halskragen lockernd, sagte er. „Von uns hat sich noch keiner beklagt, Mutter, noch keiner gesagt, daß du eine Last bist. „Du mußt in deinem Schmerz auch nicht ungerecht werden.“

Es war so in der Dämmerung zwischen vier und sechs Uhr, eine Lampe brannte noch nicht, draußen stöberte der Schnee.

„Hat einer von euch gefragt, Mutter, wo wirst du dein Haupt hinlegen? antwortete sie grollend aus ihrem Lehnstuhl am Ofen. Keiner hat das gethan. Ihr lebt hier so hin, als wäre gar nichts passiert.“

„Wenn wir das thaten,“ lautete die gereizte Antwort, „so geschah es überhaupt nur aus Zartgefühl – wir ehrten deine Trauer. Da du nun aber von selbst darauf zu sprechen kommst, Mama, so können wir das Thema gleich erörtern. Wo ist denn Aenne?“

„Oben!“ antwortete Tante Emilie, „sie schläft ein bißchen, laßt sie doch!“ Aber in diesem Augenblicke klinkte die Stubenthür und die schlanke dunkle Gestalt des jungen Mädchens glitt wie ein Schatten in das Zimmer.

„Na, da bist du.ja!“ sagte der Lieutenant, „wir wollten dich eben rufen; man muß doch ’mal darüber reden, was nun werden soll.“

„Ist Mutter hier?“ fragte sie, „in der Dunkelheit kann ich gar nichts sehen.“

„Wo soll ich denn anders sein?“ stöhnte die alte Frau aus ihrer Ecke heraus.

„Setze dich nur, Aenne,“ eröffnete der Lieutenant die Unterredung, „wir brauchen kein Licht. Es ist eben von Mutter die Frage aufgeworfen worden, was nun werden soll mit euch. In diesem Hause werdet ihr ja leider nicht bleiben können, aber in der Nähe, dächte ich, müßte es doch Wohnungen geben?“

Die Witwe begann bitterlich zu schluchzen.

„Weine doch nicht, Muttel“, tröstete Aenne. „Ein Vierteljahr bleibst du jedenfalls noch hier wohnen, und nachher kommst du selbstverständlich zu mir.“

„Das heißt – du kommst zu Mutter,“ erklärte der Referendar, der bis jetzt geschwiegen hatte.

Aenne antwortete nicht.

„Oder willst du etwa, daß sich Mutter noch auf ihre alten Tage an eine Großstadt und eine vier Treppen hoch gelegene Wohnung gewöhnen soll?“

„Dann nur lieber gleich tot!“ erklärte Frau Rat. „Ach, hätte der Vater mich doch mitgenommen!“

„Aber, Mutter“, bat Aenne, „werde doch nur erst ruhiger, es ist ja doch heute noch nicht nötig, einen Beschluß zu fassen!“

„Ja, ja, ich habe alles vorher gewußt! Selbst die einzige Tochter!“ rief sie laut weinend.

„Mutter,“ sagte jetzt das Mädchen mit fester Stimme, „wenn ich nun verheiratet wäre, würdest du dann auch verlangen, ich sollte hierher nach Breitenfels kommen? Nicht wahr – dann kämest du doch zu mir, ganz selbstverständlich zu mir.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_263.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)