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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Händedruck, aber die Augen waren ihm feucht dabei geworden. Im übrigen glich er einem Automaten und saß drüben in seinem Bau, wie er scherzweise seine Stube nannte, nach wie vor allein. Nur so gegen Abend, in der Dämmerung, kam er herüber in das Wohnzimmer, setzte sich still in eine Ecke des Sofas und lauschte dem Klavierspiel Hedwigs. Sie war keine Virtuosin, sie klimperte eigentlich nur, aber ihr Anschlag war weich und zart, und die Stimmen der Kinder jubelten so hell und frisch, und der weiche Alt des Mädchens klang anmutig dazwischen, wenn sie die alten Volkslieder sangen, die er schon von seiner Mutter gehört, den „Jäger aus Kurpfalz“, den „schönen grünen Jungfernkranz“ und „Ueber der Heide schimmert es rot“.

Noch bevor die letzten Töne verhallten, pflegte er wieder zu verschwinden. So lebte er dahin, schien nichts zu vermissen und zufrieden zu sein in diesen wunderlich stillen Gewohnheiten. Und wenn ihm Hede des Morgens heimlich nachblickte, wie er, die Büchse über der Schulter, in den Forst schritt, so aufrecht und kernig wie die Eichen im Walde oder Schlag, auf die er so stolz war, dann mußte sie ihn unwillkürlich mit Heinz vergleichen, den die letzten Jahre gebeugt hatten, als stehe er bereits an der Schwelle des Alters – armer Heinz!

Hede ging selten hinauf; zwischen ihr und der Schwägerin und Tante Gruber hatte sich das Verhältnis in nichts gebessert. Er war ihr eine Qual, dieser Besuch, wenn er einmal sein mußte, zu seinem Geburtstage, oder dem des kleinen Heini. Sie kam immer todunglücklich zurück und brauchte Tage, um sich zu beruhigen. In der Stadt war die unglückliche Ehe das Gespräch aller bösen Zungen, männlichen und weiblichen Geschlechts. Infolgedessen hatte sich Hede, die anfänglich, durch Heinz und den Oberförster veranlaßt, bei einigen Damen – der Superintendentin, der Frau Oberamtmann und Frau Medizinalrat – verkehrte, ganz zurückgezogen. Nur zu der letzteren pflegte sie mitunter einmal hinüberzuhuschen ;die Frau erregte ihr Interesse, sie war so vorsündflutlich und so originell in ihren Urteilen und Ansichten, und sie trug an irgend einem schweren Kummer. Sie wirtschaftete dabei emsig in dem schmucken Häuschen, und wenn sie unten fertig war, fing sie oben wieder an und war nicht zufrieden, wenn sie das heimlich lachende kleine Dienstmädchen nicht ausschelten konnte.

Frau Rat hielt noch immer mit Vorliebe Mädchen, die letzte Ostern konfirmiert worden waren, diese das Wirtschaften zu lehren auf eine so energische Art, daß den armen Dingern vor Angst die Augen übergingen, sie umher zu jagen, daß sie „Schuh und Pantoffel verloren“, das gehörte zur Lebenslust für sie. Wenn sie von ihrer Tochter sprach, dann seufzte sie. „Ach Gott, das ist doch kein Leben für ein richtiges Frauenzimmer,“ hatte sie erst vor kurzem zu Hedwig gesagt, „den ganzen Morgen Singübungen und wieder Singübungen machen, und selbst beim Ausruhn noch Lungengymnastik treiben, wie sie’s nennen, und mittags sich halb satt essen und abends in die Fleischerläden gehen und ein viertel Pfund Aufschnitt kaufen, wie sie schreiben – o lieber Gott, man sah’s ja auch; als sie im letzten Sommer uns besuchte, war sie ganz abgemagert.“

Auch heute früh war Hede drüben gewesen und Frau Rat hatte gerade toller im Hause umhergescholten als je; aber in ihrem Gesicht lag so etwas Eigenes, die vollen Wangen waren ganz blaß, um den Mund zuckte es; sie stand vor dem Wäscheschrank und suchte ihre feinsten Leinenbezüge, ihre schönsten Damastgedecke aus.

„Sie müssen entschuldigen, Fräulein von Kerkow,“ sagte sie zu Hede, „um sieben Uhr können sie schon hier sein, die Aenne und die Emilie, und bis dahin giebt’s noch massenhaft zu thun. Das alberne Ding, die Line, kann ja nicht einmal eine Taube rupfen und so was Dummes von Benehmen beim Spargelstechen hab’ ich noch nicht gesehen! Und glauben Sie wohl, daß sie imstande ist, eine Guirlande zu winden? – Alles muß man selbst machen. Aber gehen Sie nur ein bißchen hinein zu meinem Mann, der liest die Festzeitung, da steht ganz was Großmächtiges drin über die Aenne!“

„Frau Rätin, das kann ich zu Hause lesen, jetzt helfe ich Ihnen Kränze winden,“ sagte Hedwig. „Wo ist das Grün? Wo sind die Blumen?“ Und es dauerte nicht lange, da saß sie draußen vor dem Küchenfenster auf der Bank und wand eine Guirlande aus dunklen Tannenreisern mit zartgrünen Spitzen, und die roten Päonien drin nahmen sich aus wie die herrlichsten Rosen. Vor ihr aber stand der alte Medizinalrat und hinter ihr schaute die Frau Rat aus dem Küchenfenster, und hinter jener wieder lauschte das „Ostermädchen“, denn der Herr las aus der Zeitung vor. Hede wußte noch jedes Wort, obgleich nach den meisten Sätzen ein Räuspern und Schlucken in der Kehle des alten Herrn gewesen war und obgleich die Frau hinter ihr alle Augenblicke die Nase schneuzte und bei allzu begeisterten Ausdrücken sagte. „Nun – nun, May!“ – Worauf er antwortete: „Ich hab’s doch nicht geschrieben, Mutter!“

Ein Stern am Himmel der Kunst wurde sie genannt, eine Sängerin, der eine verheißungsvolle Zukunft winke. Ihre tiefe Auffassung, ihre Innigkeit, die Klangfülle der Stimme seien einzig, und man bedaure nur, daß das junge Mädchen eigensinnig darauf beharre, die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht zu betreten. Es sei doch gewiß phänomenal, daß eine unbekannte Konservatoristin mit einem ersten Auftreten solchen Sturm der Begeisterung erregt habe, und man hoffe bestimmt, daß es den Ueberredungen des Intendanten einer unserer ersten Hofbühnen gelingen werde, sie zur Bühnenlaufbahn zu bewegen.

Sie waren dann alle Drei stumm geworden nur der Herr Rat hatte nach einigen Minuten gesagt: „Und das ist unsere Aenne – Alte – unsere Aenne!“ Die Mutter aber fand keine Antwort, sie zog sich still weinend vom Küchenfenster zurück.

Und Hedwig hatte den ganzen Tag an dieses Mädchen gedacht, der das Schicksal so Herrliches in den Schoß geworfen, ein großes Talent, Jugend und Schönheit. Lieber Gott, wenn sie jetzt hier lebte als Günthers Weib – eine Nachtigall im Käfig!

Nun war sie wohl schon angekommen im Vaterhause und schlief in ihrem kleinen Mädchenstübchen den süßen Schlummer ihrer Kindertage. – Ob sie an den Mann dachte, dem sie ihr Wort gebrochen hatte?

Ach, Aenne schlief so wenig wie Hedwig Kerkow und wie Heinz neben dem Bettchen des Kindes. Auch sie stand am Fenster, und ihre Augen hingen am Schlosse droben wie gebannt. Sie war heimgekommen mit einer ganzen Last von Glück, mehr als sie zu hoffen gewagt; noch faßte sie es selber nicht, noch lehnten sich ihr Zartsinn, ihre Bescheidenheit förmlich auf gegen die Lobposaunenklänge, die ihr von überall entgegentönten, und in dieser Stille, in dem Zauber der Abgeschiedenheit meinte sie, es sei alles ein Traum und sie stehe hier wie damals, in der einzigen glücklichen Zeit ihres Lebens, und schaue nach dem Lichtlein empor, das ihres Daseins Stern bedeutet hatte.

Ach ja, sie war nicht imstande gewesen, das zu vergessen, immer und überall hatte die Erinnerung daran sie verfolgt. Der dumpfe Schmerz zwar war milder geworden da draußen in der Fremde, im heißen Ringen nach dem großen Ziel, aber er brannte stetig fort, sie fühlte ihn beständig. Wie mochte es Heinz ergehen? Und ob sie ihn hier wohl einmal sehen würde?

Erst gegen Morgen schlief sie ein und war doch vor Tau und Tag wieder munter, und als vor ihrem Fenster die heimatliche Welt im lachenden Frühsonnenschein lag, so grün, so frisch, so lieb und vertraut – als die herrliche erquickende Bergluft sie so wohlig umfächelte, wie sie den Kopf hervorstreckte, da hielt sie es nicht länger, sie zog ihr graues einfaches Reisekleidchen an, setzte den alten Gartenhut, der noch von damals hier hing, auf das eilig frisierte Haar und schlüpfte aus dem Hause in den Schloßgarten hinüber. Und hier schritt sie in die alten abgeschiedenen dämmerigen Gänge hinein, die sie so geliebt, auf denen sie ihre jungen seligen Liebesgedanken und dann ihren Gram spazieren geführt; die Wege am Wildgatter hin, auf denen sie mit Jeannette Hochleitner gewandert war, um von der Kunst zu reden.

Sie war im Umsehen drüben an den Stallgebäuden vorbeigeschritten und nun stand sie tiefatmend in der dämmerigen, berühmten Lindenallee des herzoglichen Gartens. Ach, das war schön – das war schön daheim! Und so einsam, so köstlich einsam! Wie hatte sie bei ihrem angestrengten Leben in Dresden den Umgang mit der Natur vermißt, wie hatte sie den Waldesodem entbehrt droben im vierten Stockwerk der Christianstraße! Und da war noch die beste Luft, da kam sie vom „Großen Garten“ herüber, und im Frühjahr brachte der Wind wirklich zuweilen einen schwachen Hauch von Syringenduft mit, der sie dann fast krank machte vor

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