Seite:Die Gartenlaube (1897) 160.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Jung Volk will allein sein.
Ein Abenteuer aus der Zeit der Postkutschen.
Von R. Waldmüller-Duboc. Mit Illustrationen von Ant. C. Baworowski.


Es war spät abends und nahezu dunkel.

„Der Hauptwagen schon besetzt?“ fragte der schmarrenreiche, blaubebrillte Studiosus der Theologie Schelle den Kondukteur und entließ mit einem Trinkgeld den Lohndiener, der ihm Gepäck, Pfeifen und Rapiere nachgetragen hatte.

„Freilich ist er besetzt,“ rief der Kondukteur, vollauf mit Packen und Aufladen beschäftigt, „machen’s nur geschwind, daß Sie im Beiwage unterkomme!“

„Wo?“

„Da hinte.“

Schelle sah sich um. Ein gelbes Wäglein kam in Sicht, ein sogenannter Zweisitziger, der aber zur Not vier Passagiere aufnehmen mußte.

„Und wenn der auch schon voll ist?“

„So müsse Sie sich ebe bis morgen gedulde.“

„Himmelsakrament! Bis morgen? Nein! Lieber selbst zu fünfen. Aber wo sind denn meine Pfeifen? O jerum, hat das Rhinoceros alles in den Hauptwagen geschleppt!“ Und er lief dem eben von dannen rollenden Hauptwagen nach.

Währenddessen trottelte der Zweisitzige heran, besser als sein Ruf, geräumig genug, um viere zu beherbergen, wenn sie nicht allzuviele Schachteln und Pakete bei sich führten.

Der Postillon reichte dem Postknecht die Einschreibeliste hinab. Es war nur ein Passagier eingeschrieben, und dieser oder vielmehr diese – „Anna Walder“ las ihr der Postknecht pflichtschuldigst mit der Laterne in der Hand ihren Namen vor – hatte ihren Koffer schon vorausgeschickt und führte nur eine Hutschachtel mit sich. Sie war jetzt zur Stelle.

Während sie einstieg, fragte sie, ob sie allein bleiben müsse, denn sie sei eine furchtsame Natur.

Nein, es sei noch jemand eingeschrieben.

„Gott sei Dank, hoffentlich kein Kind!“

„Da kommt er schon.“

„Ein Herr?!“ Sie zog ihren Schleier vor.

„Ich denk’, Sie habe g’sagt, es dürfe kein Kind sein.“

„Schon gut.“

„Ihne kann man’s aber nicht recht mache.“

„Ich bin eben ein Hase, aber was kann man gegen seine Natur!“ Und sie drückte sich furchtsam in die dunkle Wagenecke.

Inzwischen hatte der Postknecht den Namen des ohne seine vermißten Schätze mürrisch wieder herangekommenen Passagiers aus der Liste herausbuchstabiert – „Schimmelpfennig – Studiosus Schimmelpfennig – stimmt’s?“

„Stimmt!“ Studiosus Schelle hatte den Spitznamen, den er in seiner Verbindung führte, eintragen lassen.

Er stieg ein, folgte im Dunkeln der Weisung, sich rechts zu setzen, denn links sitze schon jemand, und ließ sich verdrießlich in der ihm angewiesenen anderen Ecke nieder.

Wo seine Habseligkeiten geblieben waren, hatte er nicht herausgebracht; der Hauptwagen war nicht mehr zu erreichen gewesen; nun, die Rapiere konnten schon ein paar Püffe aushalten; aber wo hatte der Trottel von Hausknecht den gestickten Tabaksbeutel und die unersetzbare schön gebräunte Meerschaumpfeife untergebracht? Beides Angebinde von ihr! von Hedwig! – Der Studiosus Schelle war nämlich seit vorigem Semester verlobt, unter vier Augen verlobt; wenigstens hatte der Vater des jungen Mädchens, ein Superintendent, selbstverständlich seine Zustimmung von den ferneren Universitätserfolgen des noch grasgrünen Theologen abhängig gemacht und die beiden Liebenden durften noch nicht für verlobt gelten. – Es war um aus der Haut zu fahren!

Wer der Jemand war, der schon links sitzen sollte, kümmerte ihn wenig, den verlesenen Namen „Anna Walder“ hatte er zwar beim Herankommen gehört, aber nicht auf einen Mitreisenden in der Beichaise bezogen. „Ich möchte mich ohrfeigen,“ brummte er in sich hinein, „den gestickten Tabaksbeutel aus den Händen zu geben! Es war doch eine zu große Eselei; sie wird ihn bei unserem Wiedersehen gleich vermissen und ich stehe blamiert da; ihr Geschenk, ihre Stickerei! – und sie glaubt an schlimme Vorbedeutungen!“

Nach einer Weile verdrossenen Starrens begann er aber doch diesen ihren Hang zum Aberglauben als eine bisher von ihm nicht ernst genug bekämpfte Schwäche anzusehen, und daß er die Gelegenheit zu solchem Kampfe jetzt nicht vorübergehen lassen dürfte, ließ ihm das Ganze fast als eine höhere Fügung erwünschter Art erscheinen. So redete er denn vor sich hin: „Also keine Sentimentalität, Schimmelpfennig! Ist er weg, so ist er weg! Es wird Thränen kosten, aber was würd’ es helfen, wenn ich mir mit ihr gemeinsam die Haare ausraufte? Basta! Streusand drauf! Sie muß beizeiten sich beherrschen lernen – mache ich denn aus jeder Mücke einen Elefanten?“ Und er sah sich im Finstern nach seinem Reiseleidensgenossen um, ohne übrigens mehr entdecken zu können als sich zunächst eine pappene Hutschachtel. „Also eine Sie? Gewiß die ‚Anna Walder‘? Meinetwegen! Oder hat sie etwa ein Kind auf dem Schoß? Na, dann dank’ ich, dann kann es mir wieder wie letztes Mal ergehen, wo ich einen Schreihals stundenlang päppeln mußte.“ Er schämte sich doch des Tons, in den er in seinem Selbstgespräch verfallen war. „Warten wir ab, was der Himmel über uns verhängen wird! Als künftiger Seelsorger kann ich nicht früh genug mich in Geduld üben.“

Währenddessen hatte das junge Mädchen Mühe gehabt, ihre Fassung einigermaßen wiederzugewinnen. Wer in ihrem Herzen hätte lesen können, würde Zeuge der folgenden Betrachtungen geworden sein. „Die Sache ist und bleibt wirklich sehr, sehr unangenehm; wäre ich nur für den Hauptwagen eingeschrieben! Wie kann ich von 10 Uhr spät bis morgen früh 5½ Uhr mit einem fremden jungen Mann allein in der Post sitzen! Es ist zum Verzweifeln! Ich ängstige mich schon im voraus, daß mein Bräutigam mir deshalb sehr böse werden wird; schreiben muß ich’s ihm ja doch; – gesteht mir ja auch jede Kleinigkeit, die ihm begegnet ist; noch in dem letzten Briefe den dummen Scherz mit dem Milchmädchen; freilich waren die Kameraden an allem schuld! Hätte ich nur beizeiten erfahren, daß ich nicht mehr im Hauptwagen mitkonnte, so wäre ich beim Oheim noch einen Tag geblieben; ich versäume ja nichts zu Hause. Wirklich ganz außerordentlich fatal!“

Inzwischen war der bis dahin dicht verhüllt gewesene Mond hin und wieder auf kurze Augenblicke ein wenig aus den Wolken getreten, so daß Studiosus Schelle bei gelegentlichem Seitwärtsschauen etwas Verschleiertes und von ihm Abgewandtes zu gewahren glaubte, soweit er zu urteilen vermochte, keine Kinderfrau und auch keine Matrone. Die Beruhigung, daß ihm diesmal seine Unerfahrenheit im Kinderwarten nicht wieder Ungelegenheiten bereiten werde, verscheuchte einen großen Teil der Verstimmung, die ihm der Gedanke an die Möglichkeit derartiger Pflichten gegen seine Reisegefährtin bereitet hatte. Er begann sich zu fragen, ob die Reise in der bisherigen monotonen Weise fortzugehen brauche, und es fiel ihm ein, vielleicht könne er sie höflich auf das von der Decke des Wagens herabhängende Netz aufmerksam machen, damit sie dort ihre Hutschachtel unterbringe.

Aber wenn sie nun etwa gerade im Einschlafen begriffen war?

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_160.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)