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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

süßer harziger Weihnachtsduft umwehte sie. Sonst war dies alles so reizend, so traut gewesen, hatte sie sich denn nur allein verwandelt? Sie strich sich über die Stirn. Nein, sie konnte so nicht weiter leben, denn sie war nicht mehr das harmlose Kind früherer Tage. Hier in Breitenfels bleiben, bedeutete für sie das Absterben aller Lebenskraft; das Dasein drückte mit Bleigewichten auf sie. Die erregte Stimme der Mutter drang ein paarmal bis hier herüber – hatte sie ihren Eltern wirklich so wehgethan mit dem Wunsch, ihr Talent auszunutzen?

Sie hatte gewußt, daß sie gegen die herkömmlichen Ansichten verstieß, denen zufolge die Tochter still im Hause sitzen muß, wartend, bis irgend ein Mann kommt, der sie begehrt. „Es ist doch geradezu entwürdigend,“ flüsterte sie. Und ihretwegen mochten zwanzig kommen, sie würde doch keinen lieben können, denn den einen würde, sie nie vergessen – nie!

Sie wollte an die Herzogin schreiben, sie um eine Unterstützung bitten; wie viele studieren von solchen Stipendien! Ob sie es aber geben würde, die alte Dame? Morgen gehe ich zur Frau von Gruber,“ entschied sie, „und melde mich zur Audienz.“

Drüben schlug heftig eine Thür; Frau Rat kam durch den Flur und trat ins Zimmer, heiß geweint, dunkelrot. Als sie die Tochter so still dasitzen sah, wendete sie sich kurz ab und ging wieder hinaus. Ihre Tritte verloren sich in der Küche. „Undankbares Geschöpf!“ hatte sie beim Weggehen vor sich hin gemurmelt.

Aenne blieb allein mit ihrem bittern Lächeln. Nach einer Stunde etwa erschien Tante Emilie, ihr altes gutes Gesicht leuchtete wehmütig durch die sinkende Dämmerung.

Das Mädchen erhob sich. „Hier, Tante!“

„Komme doch doch ’mal herüber zu deinem Papa!“

Sie ging mit der alten Dame hinüber.

„Wir haben noch weiter überlegt,“ begann der Medizinalrat, „und ich will dir gern zugestehen, daß dir nach den jüngsten Ereignissen eine Veränderung wünschenswert sein muß. Anderseits glaube ich, daß du, wie hundert andere Menschen, das Gute erst schätzen lernen wirst, wenn du es verloren hast. Du weißt jetzt offenbar nicht, wie gut es dir geht, wie geschützt, wie gehegt und geliebt du bist –“ Er hielt inne, er war so bewegt, daß er nicht weiter reden konnte.

„Papa,“ flüsterte sie an seiner Schulter, „ich weiß ja alles, ich bin euch so dankbar – –. Wenn ihr alt und kränklich wäret, ich wiche keinen Schritt von euch, aber ihr seid verhältnismäßig jung und rüstig – soll ich denn meine Kräfte so ungenutzt lassen? Und wenn ich sie nie geübt und nie gelernt habe, auf eigenen Füßen zu stehen, wie soll es dereinst werden, wenn ihr von mir geht? Du kannst mir nichts hinterlassen, sagst du – soll ich als schwere Last die Schultern meiner Brüder drücken? Und abgesehen von allem, gönnt mir doch auch das beglückende Gefühl, mein Talent zu verwerten, mein Leben auf meine Weise zu gestalten!“

„Das klingt alles sehr schön in der Theorie, die Praxis ist anders, Kind! Du kennst das Leben nicht, du versprichst dir goldene Berge und wirst nichts als Mühe und Hindernisse finden.“

Sie reckte ihre schlanke junge Gestalt. „Ich habe Kräfte, Papa.“

„Du wirst mit gebrochenen Flügeln heimkehren, aber – wie du willst!“

„Ja?“ schrie, sie.

Er wehrte ihrer Umarmung. „Ich will nicht die Vorwürfe dereinst hören, du habest dein Leben verfehlt, also, ich gebe dir ungern, sehr ungern meine Einwilligung, eine Probe da draußen mit deinem Talent zu machen. Und weiter kann ich dir nichts geben als das Versprechen, daß wenn du müde und enttäuscht heimkehrst, du hier immer die alte Liebe und Treue finden sollst!“

Aenne stand ganz verständnislos, die Arme waren ihr heruntergesunken. „Ich danke dir,“ murmelte sie, „es ist schon sehr viel, deine Erlaubnis, Papa, zu dieser Probe, die Versicherung, daß sich jederzeit wiederkommen darf – aber davon –“

Da trippelte Tante Emilie zu ihr heran. „Ich hab’ dem Vater gesagt,“ begann sie verschämt, „ob ich in Dresden oder hier meine paar Groschen verzehre, ’s ist ja gleich und – allein kannst du doch nicht –. Für die Stunden – na, mein Gott, wie lang’ werd’ ich denn noch leben? – Die kleine Hypothek in Königsberg, die kündige ich, das wird ja wohl langen.“

Das Mädchen lag plötzlich schluchzend der alten Frau an der Brust. „Ach du – du!“ rief sie.

„Geh’ zur Mutter, sag’ ihr ein gutes Wort! Meinst du denn nicht, daß es ihr ans Herz greift, wenn ein Kind sich losreißen will von ihr?“

Und Aenne taumelte hinaus und fand die Mutter auf ihrem Bett sitzend in sich zusammengesunken, mit zornigen Augen.

„Hast’s durchgesetzt?“ fragte sie.

„Mama,“ rief Aenne niederknieend, „sage doch nur ein gutes Wort – du weißt ja nicht, ach, du weißt ja gar nicht –“

„Was ist denn da zu sagen? Anstatt daß ich dich, als glückliche Frau sehe, willst du umherziehen und die Leute amüsieren! Und anstatt der Enkel – na, bringst du, wenn’s Glück gut ist, mir einen verwelkten Lorbeerkranz mit ins Haus!“

„Aber – die Brüder, wenn die heiraten, dann –“

„Ach, das sind keine Tochterkinder – Tochterkinder sind die richtigen Enkel! Und wenn man alt und wacklig wird und vielleicht Witwe, dann ist’s mir nicht vergönnt, eine Zuflucht in deinem Hause zu finden, kann deine Kinder nicht auf den Schoß nehmen, sondern werde von Fremden herumgestoßen, und es ist noch eine große Gnade Gottes, wenn du Zeit findest, bei meinem Begräbnis zu sein!“

„Aber Mama,“ sagte Aenne, „jeden Augenblick, wenn du mich brauchst, bin ich da.“

„Ich seh’ ’s schon! Wenn eine selbst nicht weiß, wie’s einer Mutter ums Herz ist, dann fehlt die rechte Liebe! Und das ist meine einzige Tochter!“

Aenne stand auf. Sie kannte die wenig logischen Anschauungen der grundguten aber heftigen Frau. Sie streichelte ihr leise über das Haar, wie sie früher gethan, und legte ihre Stirn gegen die der Mutter. „Komm’,“ bat sie, „sei lieb zu mir, es thut dir sonst schrecklich leid, wenn ich fort bin.“

Da brach die Frau in Thränen aus und hielt ihr Kind auf dem Schoße. „Wenn die Emilie nicht mitginge, es wäre mein Tod!“ schluchzte sie. „Und nun laß mich allein und sage dem Vater, er soll zu mir kommen – ich mag jetzt mit keinem andern Menschen reden!“


Aenne umarmte noch einmal Tante Emilie, dann schlich sie leise aus dem Hause; es zog sie zu Fräulein Hochleitner. Als sie – des hohen Schnees wegen mußte sie durch die Stadt gehen – die Hauptstraße hinunterschritt, die todeseinsam und verschlafen wie immer lag, kam ein Schlitten mit hellem Schellengeläute hinter ihr drein. Es war schon Zwielicht, aber Aennes erschreckte junge Augen sahen deutlich, ach, so deutlich! – Sie wich zur Seite, da jagten die herrlichen Rappen an ihr vorüber, vom Kutsche in russischer Pelztracht gelenkt, das zierliche Gefährt ungestüm mit sich reißend.

Aenne stand regungslos. – Neben der dichtverschleierten Frauengestalt im grauen Mantel mit riesigem weißen Pelzkragen saß Heinz Kerkow. Das junge Paar flog vereint in die Welt hinaus. Ihr war es, als habe der Mann sich vorgebeugt, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich, dastehe. Aber er grüßte nicht.

Nun fuhren sie nach der Bahnstation, und Aenne ging weiter, den Kopf, gesenkt, als trüge sie plötzlich eine schwere Last auf den Schultern. Was sie noch eben aufrecht und stolz dahingehen ließ, der Sieg, den sie über die Vorurteile der Eltern errungen, die beglückende Zuversicht, nur sich selbst dereinst eine Stellung im Leben zu verdanken, fiel von ihr ab angesichts des geliebten Mannes, der im engen Schlitten mit ihr seinem Glücke entgegenfuhr – unendlich selig, wie Aenne meinte. Ein starker, brennender Schmerz, eine heftige Eifersucht überfiel sie; heute nachmittag hatte sie dies nicht gefühlt, als sie die beiden vor dem Altar gesehen, jetzt aber, wo das Gefährt mit ihnen in den herabsinkenden Dunst und Nebel des Winterabends hineinfuhr, schüttelte es sie förmlich.

Das war ja doch das einzige, das wahre Glück, was dort vor ihren Augen entschwand, alles andere lohnte nicht, war nicht des Lebens wert. Wozu denn lernen – wozu überhaupt, weiter leben? Sie verspürte plötzlich Lust, in den verschneiten Wald hineinzulaufen, sich dort unter irgend einem Baum niederzuhocken, um im Frost und Schnee einzuschlafen und nie wieder zu erwachen.

Schwerfällig wandte sie sich um und schlug die Richtung nach dem Schloßpark ein, sie mochte selbst Fräulein Hochleitner

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