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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

durfte, Washington allein besitze mehr klassische Säulenfronten als ganz Griechenland.

Der Preis unter diesen Architekturwerken gebührt unstreitig dem Kapitol, das, einem von Titanen aufgeführten Wunderbau gleich, von einem 30 m hohen Hügel Umschau über die ganze Stadt und das weite, vom Potomac durchzogene Gelände hält. Aus saftig grünen Parkanlagen emporwachsend, haben seine gewaltigen Marmormassen nur den wundervollen Himmel des Südens zum Hintergrund, in dessen tiefes Blau die 87 m hohe, von Säulengängen umgebene Kuppel des Doms hinaufragt, um hoch droben noch eine 6 m große, 7490 kg schwere Bronzefigur der Freiheitsgöttin zu tragen.

Die architektonischen Schönheiten des Kapitols, seine herrlichen Säulenfluchten, welche gleich einem schützenden Wald alle Seiten des Bauwerks umgeben, die kostbaren Bronzethüren, welche den Eingang ins Innere gestatten, und die gewaltige Rotunde des Doms auf kurzem Raum zu schildern, ist ebenso unmöglich, wie all die unzähligen, die wichtigsten historischen Vorgänge des Landes darstellenden Gemälde und die vielen Standbilder der um das Land verdienten Helden aufzuzählen, die das Innere des Kapitols schmücken und es zu einem wahren Nationalmuseum amerikanischer Geschichte machen. Ansichten des Kapitols bieten unsere Bilder auf S. 104 und 105 sowie 109, außerdem bringen wir den Senatsflügel als ein Beispiel der Bauart der Washingtoner Regierungsgebäude auf S. 111 zur Darstellung.

Von den beiden Haupträumen des Kapitols gewährt der 24 zu 34 m messende Saal des Senats 90 Senatoren, der 28 zu 42 m messende Saal des Repräsentantenhauses 390 Abgeordneten Sitzgelegenheit, wobei die dem Publikum eingeräumten Galerien 1200 bezw. 2500 Personen fassen. In diesen beiden Sälen finden jene Debatten statt, deren Nachhall selbst in Europa oft genug verspürt wird und am besten für die bedeutungsvolle Stellung spricht, welche die Vereinigten Staaten trotz ihres jungen Daseins sich bereits in dem allgemeinen Völkerkonzert errungen haben.

Die im Kapitol tagenden Volksvertreter bilden den gesetzgebenden Teil der Regierung, die ausübende Gewalt ruht in den Händen des alle vier Jahre zu erwählenden Präsidenten, der im „Executive Mansion“ oder „Weißen Hause“ seinen Wohnsitz hat. Wer in diesem vielgenannten Bauwerk sich ein Schloß, einen Palast nach europäischem Muster denkt, dürfte enttäuscht sein, denn das „Weiße Haus“ hat außer seinen wohlgepflegten Parkanlagen und seinem von ionischen Säulen getragenen Portikus keinen weiteren Schmuck und erinnert mehr an das Heim eines reichen südlichen Pflanzers, der in stiller Zurückgezogenheit sich des hart erkämpften Gutes freut. Die reizenden Parkanlagen, die das Weiße Hans umgeben, umfassen eine Fläche von 30 Hektar; vor ihm liegt der Lafayette Square mit dem Reiterdenkmal Andrew Jacksons, des siebenten Präsidenten der Republik.

Außer diesen Sehenswürdigkeiten, die Washington zum Mekka jedes Amerikareisenden machen, besitzt die Stadt noch zahlreiche andere. Wer sich für die Urgeschichte, Tier- und Völkerkunde der Neuen Welt interessiert, wird reichlich befriedigt durch die im Nationalmuseum und dem Smithsonschen Institut befindlichen Sammlungen. Bücherfreunde finden in der gegen eine Million Bände umfassenden Kongreßbibliothek die seltensten Werke, wer nach geschichtlich interessanten Stätten zu pilgern wünscht, mag seine Schritte dorthin lenken, wo die Märtyrerpräsidenten Lincoln und Garfield unter den Kugeln der Meuchelmörder dahinsanken. Er mag das liebliche Mount Vernon aufsuchen, wo George Washington lebte und starb, oder er mag sich im Schatten der Anlagen des herrlichen Soldatenheims oder des Friedhofs von Arlington ergehen, auf welchem 16000 im Bürgerkriege gefallene Soldaten ruhen. Prachtvoll ist der Anblick der Stadt von dem virginischen Ufer. Im Vordergrunde am silbernen Spiegel des Potomac ragt das dem Andenken des edlen Gründers der Vereinigten Staaten gewidmete Washington-Monument empor, ein 159 m hoher, über 80 Millionen Kilogramm schwerer Marmorobelisk, in dessen Hohlraum Treppen und ein Aufzug bis zum Gipfel des Monuments führen, wo ein überwältigend großartiger Rundblick über die im Grün gebettete Stadt den Ausschauenden belohnt.

Doch werfen wir jetzt auch einen Blick auf die Bevölkerung der Bundeshauptstadt! Das ganze Lebenselement derselben ist die Politik. Ruht diese während der Sommermonate, so ist auch die Stadt verödet und tot, steigt aber am ersten Montag des Dezember auf beiden Flügeln des Kapitols das Sternenbanner in die Höhe zum Zeichen, daß der Kongreß seine Sitzungen wieder aufgenommen, so atmet die Bewohnerschaft Washingtons freudig erregt auf, denn nun ist der lange Sommerschlaf vorüber und es beginnt eine neue lebensfrische Thätigkeit. Alle Schauläden werden aufgeputzt, die großen Gasthöfe präsentieren sich in neuem Glanz, die Theater, die so lange leer standen, bevölkern sich wieder, denn mit der Rückkehr der Kongreßmitglieder stellen sich auch deren Familien sowie die Fremden wieder ein, die während des Sommers das tropisch heiße Washington ängstlich gemieden haben.

In Bezug auf seine Bevölkerung ist wohl kaum eine Stadt der Erde so eigenartig gestellt wie Washington, wohl keine wechselt so unablässig und gründlich ihre Bewohner. Da ist ein ewiges Kommen und Gehen, ein beständiges Ein- und Ausziehen wie in einem großen Gasthof oder vielbesuchten Badeort Personen, die eine Zeit lang in Washington lebten und einen ausgedehnten Bekanntenkreis erwarben, würden, wenn sie nach mehrjähriger Abwesenheit hierher zurückkehrten, bitter enttäuscht sein. und sich vergeblich nach bekannten Gesichtern umschauen. Fremde sind an ihre Stelle getreten die „Löwen“, welche damals die „Gesellschaft“ beherrschten, sind in alle Lande verstreut und haben ihre Plätze anderen Personen überlassen.

Dieser Wechsel steht mit dem Regierungssystem der Vereinigten Staaten in Zusammenhang. Dasselbe kennt kein ständiges Beamtentum in europäischem Sinne. Beamter wird, wer Lust dazu und politisch einflußreiche Gönner besitzt, die Fürsprache für ihn erheben. Tritt, was alle vier Jahre zu erwarten ist, ein Präsidentenwechsel ein, so muß der Beamte gefaßt sein, über kurz oder lang von einem Nachfolger verdrängt zu werden, der unter den dem neuen Präsidenten befreundeten Personen mächtigere Fürsprecher hat. Besonders gründlich ist die Umgestaltung, wenn auf einen republikanischen Präsidenten ein demokratischer folgt oder umgekehrt. In diesem Fall betrifft der Wechsel fast sämtliche Beamte vom Staatsminister bis zum letzten Dorfpostmeister und Zolleinnehmer hinab. Ein solcher Umschwung vollzieht sich auch gegenwärtig, denn am 4. März wird der Republikaner Mc Kinley den Demokraten Cleveland in der Präsidentschaft ablösen.

Da das in Washington beschäftigte Beamtenheer gegen 15000 Personen umfaßt, von denen viele von ihren Familien begleitet sind, die alle bei einem Verlust ihrer Stellen möglichst schnell in die Heimat zurückkehren, da ferner auch aus dem Senat und Abgeordnetenhause alljährlich eine bestimmte Zahl von Mitgliedern ausscheidet, um neu eintretenden Platz zu machen und da endlich unter den in Washington beglaubigten Vertretern der auswärtigen Regierungen Versetzungen häufig sind, so kann man leicht ermessen, welch gründlicher Umgestaltung das gesellschaftliche Leben der Bundeshauptstadt unterworfen ist.

Der Hauptteil desselben drängt sich auf die zwischen Neunjahr und Ostern gelegenen Wochen zusammen. Natürlich bilden die offiziellen Empfänge des Präsidenten sowie die von ihm veranstalteten Staatsdiners die Glanzpunkte, aber auch von seiten der anderen offiziellen und nichtoffiziellen Gesellschaft wird nicht selten ein außergewöhnlicher Aufwand getrieben. Fälle, wo ein einzelner Senator auf den Blumenschmuck seiner Empfangsräume an einem Abend Tausende von Dollars verwendete oder es sich 10 000 Dollars kosten ließ, um seine Gäste mit den gesanglichen und musikalischen Leistungen der erlesensten Koryphäen zu unterhalten sind durchaus nicht vereinzelt. Dabei sind derartige Veranstaltungen die „Receptions“, „Musicals“, „Dinners“, „Suppers“ und „five o’clock teas“, so häufig, daß man tiefes Mitgefühl mit den Aermsten empfindet, deren Stellung sie dazu verpflichtet, inmitten der hochgehenden Wogen dieses gesellschaftlichen Treibens zu schwimmen. Dasselbe erhält allerdings dadurch einen eigenartigen Reiz, daß die Teilnehmer im wahrsten Sinne des Worts kosmopolitisch zusammengewürfelt sind. So veranschaulichen die aus allen Teilen des weiten Landes kommenden Kongreßmitglieder mit ihren Damen sämtliche Typen des Amerikanertums. Da sind hagere Yankees aus den Neu-Englandstaaten und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_110.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)