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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Zweimal bereitete ihm die Gewissenhaftigkeit der Frau Fricke heitere Minuten, indem sie ihm telegraphierte: Oben hat alles den Schnupfen.

Im Februar wurde er unruhig und fuhr nach Florenz. Im März nach Nizza. Dort traf ihn ein Telegramm, welches besagte: Bodochen hat Darmkatarrh.

Bodochen – also das Kleinste.

Nun – der Doktor Cujavius hat ihm nicht mißfallen; das Kind wird also in leidlich vertrauenswürdigen Händen sein. Aber er depeschiert an Frau Fricke: Sofort telegraphieren, wenn eine ungünstige Wendung eintritt. Er bekommt zwei der gewöhnlichen Wochentelegramme: Bodochen noch nicht besser.

Drei Wochen – rechnet er nach – das ist ängstlich! Und er besinnt sich, wie lange er zu fahren hat, ehe er nach Berlin kommt. Und plötzlich überfällt ihn eine quälende Sorge – und eine Sehnsucht, nicht zu bändigen!

Weshalb soll er genau drei Monate absitzen? Er hat keinen Eid darauf geleistet. Es handelt sich ohnehin nur noch um Tage.

Er ermittelt den nächsten Kurierzug, rüstet Hals über Kopf die Abreise und fährt.

*  *  *

Es ist Abend, als Doktor Hartmann im Anhalter Bahnhofe eintrifft; er nimmt eine Droschke erster Klasse, um in seine Wohnung zu gelangen. Frau Fricke ist telegraphisch von der Zeit seiner Ankunft verständigt, hat am Fenster gewartet.

„Guten Abend, Frau Fricke,“ sagt er, als er sie an der Hausthür gewahrt. „Wie steht’s mit dem Kinde?“

Jetzt sieht er erst, was sie für ein Wehmutsgesicht schneidet. Er läßt sich den Koffer vom Bocke geben.

„Ist es tot?“

„Nein, Herr Doktor; aber der Arzt hat der Frau Hauptmann gesagt, es würde diese Nacht schwerlich überleben, sie solle drauf gefaßt sein! Es wäre schon nach dem Gehirn gegangen.“

„Gehirnhautentzündung wahrscheinlich.“

„Ja, ich glaube. Das Mädchen sagt, der Kleine macht ganz abwesende Augen und wimmert bloß und wirft den Kopf hin und her. Die gnädige Frau hat schon ein paar Nächte gewacht und ist wie halbtot, so daß sie kaum die Augen offen halten kann.“

„So,“ sagt er, „das ist schlimm … Fassen Sie mal den Koffer mit an!“

Sie haben das noch vor der Hausthür verhandelt. Jetzt fassen beide an, um den mäßig großen Koffer treppauf zu schaffen.

„Ich besorge gleich Abendbrot, Herr Doktor,“ spricht oben ihre klagende Aeolsharfenstimme.

„Das ist nicht nöthig, ich habe im Restaurationswagen gegessen. Holen Sie mir nur eine Flasche Wein herauf – eine mit der großen Goldkapsel, wovon noch fünf da sind – ich werde inzwischen einen Gang in die Apotheke thun.“

„In die Apotheke? Ach Gott, wenn Sie helfen könnten!“

„Weiß ich nicht. Apropos: wissen sie oben, daß ich kommen wollte?“

„Ja, Herr Doktor, ich hab’ es dem einen Mädchen gesagt.“

„Hm! Es ist gut so.“

Er hat noch den Hut auf dem Kopfe und geht. Als er wiederkommt, steht die Flasche entkorkt da. Er stürzt hastig ein paar Gläser hinunter, so wie er ist, eine Minute später drückt er oben an die Klingel bei der Thür.

Das Hausmädchen öffnet mit einer Leidensmiene.

„Ach, der Herr Doktor! – Die gnädige Frau sitzt hinten bei Bodochen …“

„Wo ist das?“ Er nimmt den Hut ab.

„In ihrem Schlafzimmer.“

„Schlafen die andern Kinder schon?“

„Ja.“

„Führen Sie mich zu Ihrer Herrschaft.“

Sie gehen bis auf den Korridor der hinteren Räume und das Mädchen zeigt auf eine Thür. Aus der offenen hellen Küche blickt neugierig das Kindermädchen. Die Führerin klopft leise an, öffnet und haucht in die Spalte: „Gnädige Frau, der Herr Doktor!“

Doktor Hartmann sieht, wie sie schattenhaft sich langsam erhebt – das Bild seiner Träume und Gedanken, das ihm vertraut ist wie dem Frommen der Gott seiner Gebete. Sie ist offenbar der Meinung, daß es der Hausarzt sei, der kommt, denn als sie aufblickt, den Doktor Hartmann vor sich sieht, der die Thür hinter sich geschlossen, verwirren sich ihre Augen und sie hebt mechanisch die Hände, wie um ihn abzuwehren.

Eine kleine Lampe mit rosa Blendschirm wirft ein dämmriges Licht hinter ihr.

„Sie?“ sagt die arme Frau und läßt zögernd die Hände sinken. „Sie?“ Und sie nimmt ein Taschentuch und drückt es auf die Augen.

„Helene,“ spricht er halblaut mit seiner tiefen, warmen Stimme, „ich bin gekommen, das Kind zu retten.“

Er weiß es gar nicht, daß er sie beim Vornamen nennt. Und sie antwortet nichts als ein tonloses: „Das ist nicht mehr möglich.“

„Der Doktor Cujavius sagt das. Ich glaube noch nicht dran. Wird er diese Nacht kommen?“

„Nein. Er sagt, es wäre zwecklos. Doch dachte ich …“

„Ich wäre er. Nun gut. Es ist ein anderer Arzt. Das Kind ist aufgegeben und Sie wagen nichts. Ich werde diese Nacht bei ihm zubringen und ich hoffe – verstehen Sie recht: ich hoffe! – es zu retten. Wie lange hat es diese Zufälle?“

Das Kind im Wagen wimmerte und regte sich wie in Zuckungen hin und her.

„Seit gestern.“

„Gut. Ich stelle eine Bedingung: ich sitze diese Nacht mit dem Kinde allein in der Küche – der Aufenthalt dort ist kühl, die Nähe des Herds und der Wasserleitung ist von Nutzen und Sie werden schlafen ...“

„Um keinen Preis …“

„Sie werden schlafen, Helene, denn Sie sind totmüde, ich weiß, daß Sie die letzten Nächte gewacht haben,“ sagte er ungeduldig durch die Zähne. „Ich werde mir von den Mädchen geben lassen, was ich brauche. Das Kind stirbt diese Nacht nicht.“

Sie kannte diesen Ton – eisern, wie das Muß des Schicksals; es lag eine zwingende Kraft darin.

„Mein Gott … ich bin müde … aber ich werde nicht schlafen können …“

„Sie werden es doch können!“

Sie schwieg.

„Doktor Cujavius sagt, das Kind dürfe nicht zu trinken bekommen,“ sprach sie schwach.

„Ich übernehme die Verantwortung für meine Maßregeln,“ antwortete er. „Und jetzt vertrauen Sie auf die geheimnisvolle Macht, die mich hundert Meilen entfernt antrieb, heute hier zu sein.“

Er ging an ihr vorüber, ergriff die Lampe, schlug das Verdeck des Kinderwagens zurück und beleuchtete das Gesicht des Kindes: ein faltiges Greisengesicht mit starren glasigen Augen. Es stieß wieder die irren Jammerlaute aus und zuckte mit dem Köpfchen.

„Mein Junge – wie sieht er aus!“ sagte sie mit mühsam aufrecht erhaltener Fassung. Dann überlief sie ein Zittern der Schwäche, sie sank auf einen Stuhl und preßte die Hände vors Gesicht; ihre Kräfte waren vollkommen erschöpft.

Er sah nicht zu ihr hinüber. „Gute Nacht, Helene! Ich muß das Kind retten – ich muß es retten – wiederholen Sie sich das so lange, bis Sie drüber einschlafen!“ Dabei setzte er die Lampe fort, öffnete die Thür und zog den Wagen aus dem Zimmer.

Sie hinderte es nicht; eine abergläubische Stimme sprach ihr zu: „Warum ist er hier, gerade heute? Das ist ein Wunder!“ So tröstlich war es, darauf zu hören … und sie ist so müde … so abgestumpft … sonst wäre ja das alles unmöglich …

Der Doktor Hartmann steht neben dem Wagen in der Küche und spricht mit dem Mädchen. Er hat den Ueberzieher anbehalten – es giebt eine kühle Nacht in der Küche – nur den Hut auf den Tisch geworfen. Er verlangt eine Lampe – die Deckenlampe da muß ausgelöscht werden – ein Paar feine Handtücher, einen Theelöffel, ein Glas; er fragt, ob sie abgekochtes Wasser da haben, und läßt sich zeigen, wie er im Notfall eine von beiden herausklopfen kann.

„So. Nun geht zu Bett!“

„Gute Nacht, Herr Doktor!“

Er zieht die Uhr, es ist halb elf geworden.

So ist er allein mit dem halb verlorenen Kinde, in der matt erleuchteten Küche. Er spielt va banque, das weiß er: wenn er siegt, gewinnt er alles; wenn er verliert, ist alles verspielt. Er will siegen – und es ist möglich!

Ans Werk also!

Er beugt sich zu dem Kinde hinab: es hat immerfort die Augen offen und in kurzen Pausen wimmert es und zuckt mit dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0815.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2023)